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Samstag, 9. März 2013

Für mehr Menschlichkeit

Der heutige Blog wird sich wieder einmal mit meinem Unverständnis beschäftigen. Ich kritisiere ja gerne und oft, aber Eines will mir einfach nicht in den Kopf: wieso sind so viele Menschen mit so wenig zufrieden, selbst wenn sie dadurch selbst am meisten leiden? Ich will mit drei Ausgangsbeobachtungen beginnen:

- Viele Menschen haben einen Hang zu Leitdichotomien. Egal ob es die Mann-Frau-Geschichte, Vorurteile über das äußere anderer Menschen oder das ständische Gehabe bestimmter Berufsgruppen sind.
- Diese Leitdichotomien strukturieren offensichtlich das Leben dieser Menschen und geben ihnen Orientierung. Perverserweise empfinden sie das als wohltuende Einfachheit, als "die Welt in Ordnung bringen", wenn mit einer einzigen begrifflichen Differenz schon klar scheint, was zu tun und wie zu handeln ist. Das hat natürlich etwas mit Erwartungshaltung zu tun. Weiß ich, was "in Ordnung" ist, gehe ich davon aus, dass es mein gegenüber auch weiß und wir die Einigkeit darüber nicht erst mühsam aushandeln müssen. So funktionieren Diktaturen und Faschismus, so funktioniert aber auch die alltägliche Ausgrenzung von allem, das die eigene Identität und somit den primären Zugriff auf die Welt bedrohen könnte.
- Tritt die Bedrohung ein, brauchen solche Menschen eine Bezugsperson, die ihnen sagt, was sie zu tun haben. Diese Rolle können Demagogen aller Art, Populisten und Radikale aller Art füllen. Ich verstehe langsam: Radikal zu sein bedeutet, ein übergeneralisiertes Konzept trotz mangelnder Passgenauigkeit auf die Phänomene des Alltags "einfach" durchfechten zu wollen. Etwas harmloser, aber ebenso sinnlos ist der Versuch, Einfachheit durch den bewusst gesuchten Verlust von Kontrolle herzustellen. Sex, Drogen, Alkohol.

Was ich nicht verstehe: warum bereitet es so viel Menschen so große Schwierigkeiten, auch nur ein bisschen Komplexität im Leben auszuhalten? Es kann doch so unglaublich bereichernd und inspirierend sein, sich mit dem Unterschiedlichen auseinanderzusetzen, mit dem Widersprüchlichen und einer Wirklichkeit, in der, um es gleich vorweg zu nehmen, das wichtigste der Respekt vor dem Da-Sein der anderen ist!

Ich denke hier an die momentane Debatte um die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare. Ich denke an die Beispiele, von denen ich weiß. In denen ein Leben in Einsamkeit, die Folge eines unerfüllten Kinderwunsches ist, weil die "Ordnung" einem Menschen wie jedem anderen das Recht auf Erziehung eines Kindes abspricht oder in denen engagierten Christen ein Dienst an der Kirche versagt wird, weil sie die Regeln verletzen. Ich will hier nicht darauf eingehen, dass unsere Gesellschaft sich sicher weiterentwickelt hat und das Schicksal eines Alan Turing heute nur noch für Entsetzen sorgen kann und eben nicht mehr in Ordnung ist. Ich will hier umgekehrt auch gar nicht auf die haltlosen Argumente konservativer Politiker eingehen, die einen Gegensatz von Ehe und Familie und gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften konstruieren, wo keiner ist. Ich will auf den grundlegenden Gegensatz, die Leitdichotomie von männlich und weiblich eingehen, die immer noch im Alltag gedankenlos reproduziert wird. Und ja, ich meine damit auch den #Aufschrei, der durch's Web wabert. Natürlich wird die Leitdichotomie Frau von dieser unsäglichen Unzahl von Männern reproduziert, die (kann sich das im Laufe der Evolution als nützlich für das Entstehen einer Nachkommenschaft erwiesen haben?) in derselben einfachen Empfindung, in der sie überwältigt von ihrer Wahrnehmung, die Kontrolle über sich selbst verlieren, eigenartig anzügliche Zuschreibungen machen, die eine einigermaßen gebildete Frau nur sprachlos zurücklassen können. Obwohl ich mich so sehr als Gegner einer solchen Praxis fühle, dass ich mich in gewisser Weise als Feminist fühle, verwundert mich auch die Reaktion, die sie diese Leitdichotomie ja implizit bestätigt.

Mir ist klar, dass ich hier mit der Fortpflanzung an den wohl basalsten Triebe rühre, der ja wohl ursächlich an der Mann-Frau-Differenz beteiligt ist, es kann nicht das Ziel sein, diesen wegleugnen. Mein Forderung ist jedoch noch grundlegender: So basal die Leitdichotomie des Geschlechtlichen auch sein kann, wieso vergessen wir darüber die einfache Tatsache des zugrunde liegenden Menschseins? Die Lage ist doch wohl folgende: solange ich mir Gedanken darüber machen muss, ob ich als Frau weiblich genug bin oder solange ich als Mann zur Männlichkeit angehalten werde, ist menschliches Leben schlicht unglaublich viel ärmer, als es sein könnte.

Die Forderung: Weg mit Männer-Domänen, weg mit zelebrierter Weiblichkeit? So einfach und leicht ist es sicher nicht. Aber etwas mehr (Mit-)Menschlichkeit, etwas mehr Anteilnahme, ja vielleicht sogar wohlwollendes Interesse an den Menschen, die mit uns leben und genau wie wir ein glückliches Leben, einen gelingenden Selbstvollzug von Dasein wünschen, sollten wir aufbringen können. Ich wünsche mir, dass mehr Menschen im Alltag den Mut haben, diese unsäglichen Gender-Klischees permanent zu karrikieren, zu übertreten und ad absurdum zu führen. Mehr Frauen, die Fußball spielen, mehr Männer, die Pilates machen! Weniger schlechte Witze und mehr Respekt! Erst wenn wir in unserem Gegenüber vor allem einen anderen unserer Selbst, ein menschliches Wesen erkennen, sind wir wirklich vollends fähig, dem besonderen Menschen in unserem Leben aufrichtige und wirkliche Liebe zu schenken.