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Mittwoch, 26. Dezember 2012

Das Wort zu Weihnachten: Für mehr Toleranz

Anfang des Jahres habe ich ja bereits zur Zwangsläufigkeit von Reduktionismen gedacht. Nach einigen fruchtbaren Diskussionen (mit meiner Frau, auf Tagungen, mit Freunden) diesen Monat will ich den Gedanken hier nochmals neu aufgreifen und weitertreiben. Ausgangspunkt ist dabei die offensichtliche Analogie (oder tatsächlich Isomorphie?) von Radikalisierung - ich hoffe, dass ich dabei Gedanken weite und nicht unnötig reduziere. Deswegen will ich den folgendenTeil auch nicht in ein Vergleichsschema pressen, sondern als Fließtext behandeln:

Raum. Da bin ich von Berufs wegen natürlich besonders hellhörig für räumliche Reduktionismen. Unser Geist (materialistisch: Hirn) legt inhaltlich homogen und klar begrenzte Container auf die Welt, die wir mit allerlei Bedeutungszuweisungen aufladen können. Gegen diese kognitive Strategie ist kein Kraut gewachsen - dies ist unser primärer Zugriff auf die Welt. Wir können uns aber darüber im Klaren sein und dabei möglichst wenig undifferenzierte Aussagen machen. Radikalisierung droht immer dann, wenn ein Container mit seinem dazu gedachten Nutzungsanspruch normativ gesetzt wird und andere Nutzungen zumindest implizit als nicht angemessen deklariert werden. Auf unterschiedlichen Maßstabsebenen haben wir dann Nationalismus, Regionalpatriotismus oder urbane Segregation von Bevölkerungsgruppen mit allen Folgen für Machtausübung, Gewaltandrohung etc.. Eine aufgeklärte Verhaltensweise wäre wohl nicht eine möglichst häufige, provokante Grenzüberschreitung (Besuch bei den Assos? Das würde negative Images nur aufschaukeln), sondern eine Entgrenzung des Denkens: eine differenzierte Bewertung jeder Ortssituation ohne vorgefertigte Bewertungsmuster.


Geschlecht. Hier hat sich unsere Wahrnehmung im Laufe der Evolution naturgemäß (es soll ja Nachwuchs geben) auf die Leitdichotomie zwischen Mann und Frau eingeschossen. Auch wenn biologisches Geschlecht nicht eindeutig sein muss, sind es vor allem die Gender-Rollen, die sozial konstruiert über diese Leitdichotomie gelegt werden, die Ärger machen. Im besten Fall ist es wieder ein einfacher Zugriff auf die Welt, der Erwartungshaltungen auszuhandeln hilft, im schlechtesten Fall droht wieder Radikalisierung in Form von Sexismus, die bestimmtes Verhalten normativ belegt und anderes ausschließt. Leider finden sich solche schwarzen Schafe all zu oft unter Männern, die scheinbar eine reichhaltigere, komplexere Welt nicht ertragen. Als erklärter Feminist könnte ich kotzen, wenn Männer ihren Frauen unter Androhung von Sanktionen eine berufliche Laufbahn versagen. Noch irrer ist, dass es im 21. Jahrhundert tatsächlich noch Frauen gibt, die sich davon beeindrucken lassen. Eine aufgeklärte Verhaltensweise wäre demzufolge natürlich eben nicht eine wahlfreie (Über-)Sexualisierung des Alltags: aber versucht es doch mal mit aufrichtiger Anerkennung des Menschen im Anderen...

Glaube. Jetzt wird es kompliziert - hierzu muss ich eine Setzung machen: unter Glaube verstehe ich allgemein die positive Kraft, die uns Lebensmut gibt und und immer wieder neu auf's Leben hin ausrichtet, wenn uns der Mut fehlt, woher auch immer wir diese Kraft beziehen - seien es Esotherik, Parties, Reisen, andere Menschen oder der Glaube an ein höheres Wesen. Bildlich ausgedrückt ist es die Kraft, die uns dazu bringt, auf einem blauen Sandkorn, das auf ständigem Kollisionskurs durch's Weltall eiert, in aller Seelenruhe ein Haus zu bauen, eine Familie zu gründen und abends auf der Terrasse zu sitzen und den Sonnenuntergang zu bewundern. Die Leitdichotomie zwischen Leben und Tod selbst ist dagegen grundsätzlich und alternativlos. Die Radikalisierung in Form von Fundamentalismus ist dann, wenn die eigene Quelle dieser Kraft über alle anderen erhoben wird und alle anderen im besten Fall verirrte Schafe, im schlechtesten Fall Ungläubige sind, die es zu töten gilt. Eine aufgeklärte Verhaltensweise ist hier eben nicht der religiöse Eklektizismus (heute Buddha, morgen vegan, übermorgen Animismus), sondern Toleranz und Wertschätzung für die positiven Werte, die andere Menschen antreiben - und vielleicht sogar ein bisschen Freude daran.

Politik. Es ist nach den vorgenannten Beispielen, denke ich, folgerichtig, Politik als das Feld der Verhandlungen über die Ausrichtung gemeinschaftlichen Handelns auszuweisen. Radikalisierung droht hier von allen Seiten: das können Raum, Glaube oder Geschlecht und noch etliche weitere Reduktionsmen sein. Radikalisierung heißt, dass sich Menschen, die dem Schema nicht entsprechen, nicht am gemeinschaftlichen Handeln beteiligen dürfen, aus der Handlungsgemeinschaft ausgestoßen werden oder man ihnen im schlimmsten Fall ans Leben will. Eine Emazipation ist auch hier nicht durch Vermischung von Leitdichotomien (National-Sozialismus lässt grüßen) zu erreichen, sondern nur durch verantwortliches, auf das Wohl aller Menschen hin ausgerichtetes Handeln (ohne jetzt ohne weitere Prüfung einem reinen Utilitarismus das Wort reden zu wollen).

Halten wir fest: die grundlegende Gefahr aller kognitiven Strategien zur Komplexitätsreduktion ist die Institutionalisierung von normativ gedachten Diskursen in Organisationen, die eine wie auch immer geartete Ordnung überwachen sollen: Parteien und Staatsapparate, Kirchen und Glaubensordnungen, Stammtische und Strickabende. Das soll wiederum nicht heißen, dass die Staatsform der Wahl die Anarchie sein sollte, sondern nur, dass solche Institutionen die Möglichkeit und Macht zu Kontrolle ausüben können und somit die Gefahr besteht, dass diese von einzelnen Akteueren in leitenden Positionen unhinterfragt und verantwortungslos genutzt wird.

Dagegen gilt es vorzugehen und hellhörig für eine allzu einfache Deutung der Welt zu bleiben. Dazu gehört aber auch, Komplexität aushalten zu können und nicht vorschnell zu urteilen. Nutzen wir unseren Glauben, unsere positive Kraft zu leben, um das Experiment der Menschheitsgeschichte - in unserem kulturellen Kontext das Experiment Gottes - weiter voranzutreiben und uns selbst als einmaligen Versuch, als Essay Gottes, zu begreifen. Nutzen wir die beiden Triebfedern sozialer Gemeinschaft: den positiven Egoismus, im Rahmen dessen jeder in seinen Möglichkeiten seinen Gestaltungswillen zeigen kann, um institutionalisierte Hegemonien aufzubrechen und zumindest kurzzeitig anders zu denken und den positiver Altruismus, die Fähigkeit, dem anderen wirklich zuzuhören und an seinen Ideen zu wachsen - denn gerade die widersprüchlichsten und kontroversesten Ideen sind es häufig, die uns weiter bringen.

Und fangen wir damit am besten noch im alten Jahr an.

Sonntag, 23. Dezember 2012

1400 km in sechs Tagen

Rechtzeitig vor Weihnachten ist es langsam Zeit, im Blog noch ein paar Türchen zu öffnen und sich wieder mit den Ideen der vergangenen Wochen zu Wort zu melden. Die letzten Tage waren dann doch eher gut gefüllt, nachdem ich letztes Wochenende in Dortmund auf Burg Husen noch die Nachwuchstagung Raumaneignung (die haben wir uns für das Folgejahr gleich nach Bamberg aufschwatzen lassen) besucht habe und letzten Mittwoch für ein paar Stunden nach Augsburg gefahren bin, um dort eines unserer Geogames zu begleiten.

Mit Kollegen an Bord und mangels geeigneter Anbindung an den nächsten Bahnhof der jeweiligen Locations bedeutete das bei Tauwetter, Schneefall, Regen und Dunkelheit 1400km, also ca. 10% meiner jährlichen Gesamtfahrleistung auf deutschen Autobahnen:


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Mittwoch, 28. November 2012

Generation Y

Weil mir zuletzt wieder verschiedentlich von Bewerbungsgesprächen im Bekanntenkreis (mit wechselndem Erfolg) berichtet wurde und ich mit einem alten Bekannten fünf Jahre nach unserem Berufseinstieg über Chefs und Mitarbeiter sinniert habe, wildere ich diesmal in für meine Verhältnisse recht betriebswirtschaftlichen Gefilden. Interessiert habe ich diese Woche beim Stöbern im Netz zur Kenntnis genommen, dass die Generation der nach 1980 geborenen Arbeitnehmer als Generation Y bei vielen Unternehmern für Verwirrung und Kopfzerbrechen sorge:

http://en.wikipedia.org/wiki/Generation_Y
http://www.spiegel.de/karriere/berufsstart/generation-y-audi-personalvorstand-thomas-sigi-im-interview-a-848764.html
http://www.spiegel.de/karriere/berufsstart/berufseinstieg-wie-firmen-die-manager-von-morgen-sehen-a-869420.html

Weil sie sich nichts aus Geld und Titeln machen, lassen sie sich weniger leicht ködern, haben Fremdsprachekenntnisse, können gar trefflich parlieren und haben kein Problem, vor vollem Haus das Wort zu ergreifen. Was den klassischen Unternehmensstrukturen mit 3-5 Etagen aus mittlerem Management gar nicht passt: sie haben kein Verständnis für Hierarchien und stellen private Belange mitunter über den beruflichen Erfolg; mitunter fehlen ihnen allerdings auch Kritikbereitschaft und Reflektionsvermögen.

Nachdem ich nun über die Jahre hinweg immerhin schon fast zwei Dutzend HiWis angeworben und begleitet habe (von denen ich mich vielen weit über die Arbeit hinaus freundschaftlich verbunden fühle), bin ich natürlich ins Grübeln gekommen, was für mich einen guten Mitarbeiter ausmacht bzw. worum ich mich selbst natürlich auch täglich bemühe. Ich habe es einmal auf eine tabellarische Darstellung gebracht, was mir in der heutigen Arbeitswelt wichtig scheint (auch wenn es natürlich stark auf den wissenschaftlichen Kontext fokussiert):

bzgl. Teamfähigkeit Neugier Auffassungsgabe Hartnäckigkeit
Teamfähigkeit soziale Kompetenz Kontaktfreudigkeit Emotionale Intelligenz Netzwerkpflege
Neugier
Eigenmotivation Problembewusstsein richtiges Fragen
Auffassungsgabe

Begabung systematisches Lernen
Hartnäckigkeit


Fleiß

Die Spaltentitel in der Diagonalmatrix stehen dabei für die Grundeigenschaften, die Zeilen für ihre wechselseitige Anwendbarkeit aufeinander.
  • Teamfähigkeit: wer Ellenbogen ausfährt oder die Gruppe aufhält, kann heute nicht mehr weiterkommen
  • Neugier: wer nicht in sich den Wunsch hat, auf Aufgaben und Menschen zuzugehen, kann wird von den immer kürzeren Entwicklungsspannen - gesellschaftlich wie technologisch - aussortiert.
  • Auffassungsgabe: Ja, ja, die hat noch nie geschadet...
  • Hartnäckigkeit: ... und auch die preußischen Tugenden sind mit dabei.
Wenn man es recht überlegt, sind es aber gerade die vormals weichen Eigenschaften Teamfähigkeit und Neugier, die an erster Stelle stehen - wer noch nichts weiß, kann es lernen, wer dazu länger braucht, kann beharrlich sein, aber wer sich im Stile eines "lonely genius" zurückzieht oder sich gar auf Erreichtem ausruht, hat ein Problem.

Greifen wir also zumindest noch die vier Felder der "alten" im Vergleich mit den "neuen" Tugenden heraus:
  • Emotionale Intelligenz (Auffassungsgabe x Teamfähigkeit): quasi die soziale Auffassungsgabe: wie schnell kann ich bei meinem Gegenüber den richtigen Ton anschlagen und auf ihn eingehen?
  • Netzwerkpflege (Hartnäckigkeit x Teamfähigkeit): die Fähigkeit, Kontakte auch von sich aus zu pflegen und auch mal längere Pausen nicht krumm zu nehmen - natürlich gepaart mit der Eigenschaft, sich nicht jeden zweiten zum Feind zu machen; wer aneckt, irritiert.
  • Problembewusstsein (Auffassungsgabe x Neugier): Ein Gespür und auch eine Faszination für die Probleme zu empfinden, die gerade viele beschäftigen, hilft, die Fähigkeiten richtig auf das Wesentliche zu fokussieren.
  • richtiges Fragen (Hartnäckigkeit x Neugier): Wer einen Trend setzen will, muss dieses Gespür auch nutzen können, um mittels der richtigen nächsten Frage immer einen Schritt voraus zu sein und zu antizipieren, wohin die Entwicklung wohl geht.
Wenn ich so darüber nachdenke: eigentlich steuert die gesellschaftlich-technologisch mittlerweile eng verzahnte Transformation immer mehr in Richtung Schwarm: So betrachtet ist Narzismus ein Auslaufmodell und Freude am Austausch mit anderen die Zukunft. Insofern hoffe ich, dass ich immer in der glücklichen Position bleibe, mir immer wieder ein solches neugierig-fleißig-respektvoll-egalitäres Team zusammenstellen zu dürfen...

Sonntag, 18. November 2012

Anjoggen im November

Nachdem ich mich im Oktober zusammen mit Matthias verwegen zum Welterbelauf nächsten Mai angemeldet habe (um es gleich zu sagen: nur die 10km und nicht die 20 - für mich reicht's) habe ich heute nach Abstecken verschiedener Übungsrouten mal einen ersten Test über 3km unternommen. Für die lange Pause, in der ich jetzt nicht mehr gelaufen bin (gut, ich habe wohl eine gewisse Grundfitness vom Hochschulsport), war ich mit 18 Minuten ziemlich zufrieden - die waren allerdings im Flachen und irgendwie müssen wir ja auch noch den Domberg schaffen...

Der Plan sieht vor, dass ich mit 3km beginne, mich auf 5km steigere und die Referenzstrecken durch wechselseitige Kombination sukzessive auf 8 bzw. 10km steigern kann, bevor wir uns an die Live-Strecke wagen. 5km kann ein einigermaßen trainierter Mensch wohl aus dem Stand laufen und 10km sind ja "nur" das Doppelte - für einen groben Eindruck, was 10km Luftlinie dann doch bedeuten hier ein Kartenausschnitt mit (ungefähr) entsprechender Ost-West-Erstreckung...


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Sonntag, 4. November 2012

Hurrikan Sandy trifft New York. Punkt?

Räume werden im Kopf gemacht, Grenzen existieren nicht von sich aus in der Realität (eine solche vorausgesetzt), sondern vor allem in unseren Überzeugungen, die gegenüber Veränderungen sehr resistent sein können - so viel hat die jüngere Forschung der Geographie gandenlos aufgedeckt. Erstaunlich ist im Machtspiel der Geopolitik aber auch die Ausprägung der Ignoranz, nämlich das Fehlen einer Vorstellung beim vorgeblichen Fehlen einer Relevanz. Ein geopolitisches Achselzucken gewissermaßen.

Sehr schön lässt sich das zur Zeit wieder am Hurrikan Sandy beobachten. Hurrikan Sandy trifft New York. Punkt. Und vielleicht noch ein paar andere Dörfer an der US-Ostküste. Sonst ist ja nichts passiert. Um es gleich deutlich zu sagen: Ein solcher Sturm mit so vielen Toten ist eine Tragödie und die Folgen eines gleich starken Naturereignisses wären in Deutschland kaum abzusehen und der Sturm erreichte im Augenblick seiner größten Wucht diese Region. Dass aber die internationale Presse, und dazu muss ich auch die deutsche Presse als Repräsentant eines nicht unmittelbar betroffenen Landes zählen, so auf die US-amerikanische Lage fokussieren, nachdem die Zerstörungen auf der vorherigen Zugbahn Sandys ebenfalls erschreckende Ausmaße erreicht haben, stimmt mit nachdenklich, wenn nicht instinktiv wütend, da ich eine Ungerechtigkeit wähne: "Was interessiert uns, ob in Haiti, das ohnehin kaum ordentliche Häuser hat, eine Wellblechhütte umfällt? Business as usual. Ja, die Leute dort haben Probleme, aber das hat ja nichts mit uns zu tun." Tue ich den Berichterstattern unrecht? Oder ist das doch ein soziokultureller Neglect, der da auf der Wahrnehmung liegt?

Eine vorsichtige Abschätzung, in Ermangelung eines geeigneten Korpus mittels Google:
  • Suchtreffer "US hurricane sandy" 3.320.000.000
  • Suchtreffer "new york hurricane sandy": 1.470.000.000
  • Suchtreffer "haiti hurricane sandy": 89.500.000
  • Suchtreffer "cuba hurricane sandy": 83.400.000
Allein New York bekommt damit eine Aufmerksamkeit, die bei Textlinks im Web (natürlich ohne Bewertung der Korrektheit der Treffer) die 16fache Aufmerksamkeit beträgt wie bei Haiti. Von der Bilderflut für den angehenden Katastrophentouristen mit Fotostrecken von abgesoffenen Taxis, der dunklen Skyline und Ähnlichem ohne nennenswerte Bilder aus Haiti ganz zu schweigen. Auf der Seite 1 der Google Bildersuche ist mir jedenfalls kein Motiv aus der Karibik aufgefallen. Wie lässt sich das erklären?

Ein paar Hypothesen:
  1. Die Zustände in Haiti sind völlig unklar. Es ist nur klar, dass es verheerend gewesen sein muss. Es gibt keine Reporter vor Ort.
  2. Sehr viele Journalisten sind dagegen immer in New York und berichten naturgemäß zunächst aus eigener Anschauung.
  3. Alle, die ein Smartphone besitzen, sind in der Lage, Bildmaterial zu erzeugen und damit das Netz zu fluten. Wer halb am Verhungern ist wie in Haiti, hat somit im doppelten Wortsinn kaum Sichtbarkeit.
  4. In New York ist es immer das als unverletzlich gedachte Symbol, die in so vielen Hollywood-Filmen gestählte Ikone der westlichen Welt, die tatsächlich (schon wieder!) verletzt wurde. Im Verhältnis zur Erwartungshaltung ist das Bild einer überschwemmten Wellblechhütte in Haiti mit hungernden Bewohnern im Erwartungsrahmen,während ein dunkle und überschwemmte Skyline in New York, der Stadt, die ja angeblich niemals schläft, der Stadt der Träume, die den Erfolgreichen zu dem Urteil verleitet, er könne es jetzt in der ganzen Welt schaffen (wie vermessen, Erfolg in einem sehr genau umrissenen soziokulturellen Kontext zu gerneralisieren) verschreckt und verstört.
Dieser Missstand in der Berichterstattung lässt sich nicht durch einzelne Stimmen beheben, und auch wenn von meinen Hypothesen (Vorurteilen?) einiges davon zutreffen sollte, Aufdecken alleine hilft nicht und solange ich diesen Blogeitrag schreibe, reift in mir die Erkenntnis, dass zumindest ich dann auch etwas tun sollte - immerhin hat das Rote Kreuz einen eindeutigen Spendenaufruf für Haiti formuliert - und nicht für New York.

Donnerstag, 1. November 2012

Lebenszyklus des Wandels

Zumindest kurz will ich mich heute einem Thema widmen, das mich schon länger beschäftigt. Nachdem ich zuletzt Wachstum als Veränderung unter selektivem Vergessen enttarnt habe, richtet sich der Gedanke naturgemäß auf Veränderung. Wie vollzieht sich Veränderung im Alltag? Wie nehmen wir sie war? Wie wünschen wir sie uns? Wie immer können hier natürlich nur einige Aspekte angerissen, werden ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.

Da mir Wissenschaft trotz allem schon zur Gewohnheit geworden ist, will ich zunächst sammeln, was ich über Veränderung weiß. Da wäre zunächst das allwissende "panta rhei" der Vorsokratiker, die Physik des Aristoteles, in der Bewegung eine Form von Veränderung ist. Bereits hier findet sich eine Art einfacher Lebenszyklus vom Werden über eine aspektuelle Veränderung hin zum Vergehen (nehmen wir die Kategorienschrift hinzu, also vom ersten Zutreffen eines protoypisch gedachten Klimaxbegriffs an einem Gegenstand bis zu seinem letzten). Halten wir auch fest, dass es ohne ein Ablaufen von Zeit keine Veränderung geben kann und dass es, nehmen wir Augustinus hinzu ("In dir, mein Geist, messe ich die Zeit") ohne Erinnerung keine Beobachtung von Veränderung geben kann. Vermissen (Das Fehlen eines Vergangenen) und Sehnen (das Fehlen eines als zukünftig Antizipierten) werden als menschliche Grundstrebungen erst dadurch aufgespannt und dadurch die Suche nach dem Augenblick, nach dem Teilhaben an dem exakt erstrebten Maß an Veränderung (bis hin zum Flow oder der perfekten Welle, bei der die eigene Veränderung mit der Veränderung der Umwelt im Einklang steht). Und weil der Mensch Werkzeuge bedienen kann, ergeben sich zwei Möglichkeiten der Transformation, um Einklang zu erreichen. Entweder muss die Umwelt angepasst werden - durch Ortsbewegung, Veränderung des sozialen Umfelds oder des Arbeitsplatzes - das ist aber meist teuer (nicht notwendig monetär, aber zumindest (zeit-)aufwändig). Einfacher scheint die im Wortsinn patiente Lösung: Das richtige Mittel verändert meinen Körper, wenn nicht mich so, dass ich in meiner Umwelt aufgehe. Alkohol holt mich in den (nicht-erinnerten?) Augenblick, Kaffe macht mich konzentriert und munter, die Zigarette schafft als Routine des Alltags Sicherheit, Musik im Ohr schafft ein Ensemble aus Herzschlag und Gesang, das notwendige Wege überbrückt und die Schlaftablette lässt mich zur gewünschten Zeit einschlafen. Ich entferne mich langsam vom Kernthema, nur noch so viel: Es ist fraglich, wie viel davon tatsächlicher Mangel an Augenblick ist, der evtl. gar nicht durch das Werkzeug, sondern durch die Suggestion seiner Wirkung erreicht wird und wie viel davon ein allzu exakt getakteter Alltag ist - wie heißt das afrikanische Sprichwort? Ihr habt die Uhren, wir haben (die) Zeit.

Zurück zum Vorverständnis: zuletzt habe ich einiges über die kognitiven Grundlagen von Veränderung gelernt - eher beiläufig im Gespräch auf einer Fachtagung. Ich habe gelernt, dass die Gegenwart ca. 3 Sekunden dauert - das ist die Zeit, die das sensorische Echo unserer Sinne in unserem Geist (so übersetze ich als Humanist dem funktional-materiellen Kontext zum Trotz noch immer am liebsten den Gegenstand der philosophy of mind - den Unterschied zwischen Leib/Seele und body/mind als Sprachwandel in einem kulturgeschichtlichen Kontext zu untersuchen ist sicher irgendwo erforscht) nachhallt und zu einem Augenblick zusammerückt. Das Echo ist es wohl, das Aristoteles zu der zutreffenden Beobachtung kommen ließ, eine Bewegung und eine Veränderung ließen sich nur an Referenzgegenständen festmachen, z.B. indem die Sonne oder ein Ball im Flug die qualitative räumliche Konfiguration mit der Landschaft ändert (links vom Baum, über dem Baum, rechts vom Baum). Notfalls müssen wir solche Referenzen eben selbst schaffen, was mit einem Bleistiftstrich des Schattenwurfs oder einem Beweisfoto heute ja rasch geht. Ich habe zudem gelernt, und das führt uns zum spannenden Teil der Bewertung von Veränderung, dass dem durch die kognitven Notwendigkeit von Begriffen ("etwas an etwas (gedanklich") festhalten") bedingten Beharren eines kognitven Modells die simple Gewöhnung entgegenwirkt. Erst scheint uns das Neue sonderbar (absondernswert), dann bemerkenswert und schließlich sogar vertraut (verwendenswert). Mir wurde von Beispielen in der Mode berichtet, nach denen bestimmte Formen, die zunächst als abstoßend und hässlich empfunden wurden, bei kontinuierlicher Wiedervorlage immer milder und schließlich positiv beurteilt wurden. Spannend auch, dass das Vertraute schnell ins Gewöhnliche abgleitet und abgelegt wird, wenn einer positiven Irritation die nächste Vertrautheit folgt. Ganz ähnlich zu den Lebenszyklusmodellen in der Standorttheorie, nach denen nur ein unverbrauchter Ort leicht Träger einer neuen Funktion werden kann ist es wiederum teuer im Sinne von aufwändig, den Träger einer Vertrautheit (seien es Produkte wie ein Auto oder ein PC oder auch persönliche Beziehungen) durch das Setzen von neuen Irritationen immer wieder in den Raum des Bemerkenswerten zurückzuholen. Nur als Anekdote: In Zentraleuropa ist es viel wichtiger, dass ein Nachfolgemodell eines Autos Familienähnlichkeiten mit seinem Vorgänger aufweist als z.B. in Japan.

Es hängt also (wie immer) von einer bestimmten Sozialisierung und der konkreten Person ab, welcher Grad an Veränderung (anregende Irritation) und welcher Grad an Vertrautheit (wohltuende Kongruenz) nötig ist, um durch Interferenz verschiedener Lebenszykluswellen die eigene perfekte Welle aufzuspannen, in der die Kongruenz des eigenen Daseins in dichtender Kunst und Gesang auf so vielfältige Weise formuliert wird. Als Informatiker bin ich versucht, diese Eigenschaft einer Person als erwünschte Veränderlichkeit a [0..1] bezüglich eines Lebensbereichs definieren zu wollen (wobei 1-a der Wunsch nach Wiederholung, nach dem gleichbleibenden Verharren wäre). Das Abweichen von der wahrgenommenen Veränderung  in den jeweiligen Lebensbereichen bestimmt dann z.B. über Chi-Quadrat oder schlicht das Residuum das Aufgehen oder aben Nicht-Aufgehen, das Ankommen im Augenblick oder das Fremdbleiben.

Ein philosophischer Aufsatz, den ich einst im Grundstudium gelesen habe, stellte die These auf, die Wahrnehmung (Illusion?) von Ewigkeit liege nicht in der Zeitlosigkeit, sondern in der erlebten Transzendenz des Augenblicks, wenn wir uns ein Musikstück oder Film im innersten berührt, wenn in einem Gespräch mit einer geliebten Person die Welt um uns versinkt und eine Oase der Geborgenheit schafft. Wäre mein Modell der Veränderlichkeit, der Distanz zur Welt vor diesem Hintergrund ein einfaches Modell des Glücks?

Sonntag, 28. Oktober 2012

Kürbis-Ernte

Nun mus ich aber doch rasch noch von unserer Kürbisernte berichten. Gleich vorweg, damit kein falscher Eindruck entsteht: Die "Not"-Ernte fand schon am 8.10. statt, um dem tags darauf gemeldeten ersten Nachtfrost nicht zu viel Angriffsfläche zu bieten. Und in der Tat, nur die Kürbisranke in der Hecke hat den ersten leichten Frost überstanden. Somit beträgt nach der etwas kurzen Saison (wir pflanzten wie hier berichtet ja erst Anfang Juli) die durchaus sehenswerte Ausbeute fünf mittelgroße Kürbisse (der größte schaffte es auf fünf Zentimeter - Vorsicht, die gut lesbaren Ziffern auf dem Maßband sind inch!) und einen kleinen Nachzügler aus der Hecke. Hier ein paar Impressionen:


Nun muss noch der Balkon abgeräumt werden (überwintern werden wohl unsere zwei Nadelbäumchen, der Buchsbaum, der Olivenbaum, der Jasmin und natürlich der Apfelbaum) und dann freuen wir uns schon wieder auf die Pflanzzeit nächstes Frühjahr!

Montag, 8. Oktober 2012

Fischland - physisch geographisch

Nachdem wir vier stürmische Tage im Heilbadklima von Fischland hinter uns haben, sollen an dieser Stelle natürlich keine Urlaubsfotos gezeigt werden, sondern nur knallharte geographische Fakten - es hat Spaß gemacht, eine Menge an Mustern wiederzuerkennen, die ich in meinem Grundstudium irgendwann mal erworben hatte. Mal sehen, wie viel geographisches Halbwissen mir erhalten geblieben ist. Lustigerweise hat sich unser Kurzurlaub mit Helgas Exkursion überschnitten, so dass ich natürlich sehr motiviert war, auch ein bisschen was zu Geographisches zu entdecken - immerhin träume ich noch immer von einer Großen Exkursion Ostsee, beginnend in Lübeck, über die polnische Küste und Kaliningrad ins Baltikum und über Schweden und Dänemark zurück. ;)

Werfen wir dazu einen raschen Blick auf die topgraphische Situation:


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Wie unschwer zu erkennen, fällt der Bereich idealtypisch unter die Ausgleichsküste, die sich entlang der Ostsee ausgebildet hat. Grund ist zum einen der sehr geringe Tidenhub in Kombination mit einem netto ostwärts gerichteten Transport (der vorherrschenden Windrichtung folgend) der glazialen Ausgangsmaterialien (i.W. Geschiebe von Grundmoränen). Uprünglich waren Fischland, Darß und Zingst unverbundene Grundmoräneninseln, die durch diesen Prozess an ihrer dem Meer zugewandten Seite erodiert wurden. Das Material wuchs in Form von Haken ostwärts, bis sich die Inseln zur heutigen Halbinselkette verbunden hatten. Bis auf Darß haben die Inseln (wahrscheinlich gab es noch ein Prerow-Land nördlich) ordentlich an Substanz verloren - nur Darß gewann nach Norden im Verlauf der letzten 10000 Jahre Schicht um Schicht beinahe 5km Land dazu (der aktuelle Strandhaken ist auf der Karte deutlich sichtbar).

Die heute weiter aktive Erosion zeigt sich an der "Glippe" nördlich von Wustrow, wo marine Erosion ein sukzessives Abbrechen und Zurückversetzen der Küstenlinie Fischlands bedingt (auf dem Bild sieht man gut im oberen Teil der Glippe die Bodenbildungen der durch die Erosion verlorengehenden Böden: Zumindest Humusbildung und darunter liegender Auswaschungshorizont sind zu erkennen)


Durch den beständig wachsenden Haken nördlich von Prerow werden immer wieder Strandseen vom Meer abgeschnürt, die aussüßen und verlanden. Im Darßer Wald finden sich daher im Wechsel Folgen aus fossilen Dünen und moorige Bereiche. Hier der aktuelle Strandsee an der Nordseite von Darß:


Ein etwas besserer Überblick vom Darßer Leuchtturm: In der Bildmitte ein älterer, beinahe verlandeter Strandsee, darunter etwas Bruchwald. Ganz an der Küste ein bildhübscher Windweiser, also ein Baum, der getrieben von den auflandigen Winden nur landeinwärts eine wirkliche Krone ausbilden konnte:


Im Bereich zwischen Weiß- und Graudünen im marinen Akkumulationsbereich brechen mitunter auch ohne Zutun des Menschen (Kernzone Nationalpark) bereits begonnene Bodenbildungsprozesse wieder ab und werden äolisch erodiert (in der linken Bildmitte ist von der Westseite ein erodierter initialer Bodenhorizont zu erkennen):


Verlandende Strandseen fallen nur aus der Nähe durch den üppigen Bewuchs mit limnophilen Gewächsen und dazwischen liegende Entwässerungsrinnen auf:


Durch die Verbindung der urprünglichen Inseln zu einer Halbseekette wurde auch der dahinterliegende Bereich weitgehend vom Meer abgeschnitten: die Boddenlandschaft. Hier ist der Salzgehalt noch niedriger als in der Ostsee ohnehin, so dass hier ein zu Aussüßung neigender Brackwasserbereich vorherrscht. Durch beständige Sedimentation der mündenden Gewässer liegt die Wassertiefe im Bodden daneben nur noch ein bis zwei Meter unter der Wasseroberfläche. Wegen seines Fischreichtums wurde hier zuerst mit der Befischung begonnen. Im Bild zeigt sich der Bodden (rechts) und die angelagerten Siedlungen (Kirchturm von Wostrow links):


Historisch liegen die Siedlungen natürlich auf den alten Inselkernen in sicherer Entfernung zur offenen See. Erst jüngere Entwicklungen (Strandtourismus) bedingen eine zunehmende Einbringung von Infrastruktur in Küstennähe (und damit im Flut- und Erosionsgebiet). Historisch reicht die Besiedlung bis in slawische Zeit zurück (wie für Vorpommern, das erst sehr spät zum Frankenreich kam, zu erwarten). Die weitergehende Besiedlung und Kontrolle der Küste war stark durch die Hanse geprägt.
Dadurch ist zu erklären, dass die Küste abgesehen von einzelnen Schutzbereichen wie oben abgesehen natürlich nachhaltig vom Menschen überformt ist. Bestes Zeugnis sind Küstenschutmaßnahmen wie Buhnen (im Bild links) oder als Küstenschutz genutzte Dünen (rechts):


Seebrücken und Strandbäder sind darüber hinaus häufig mit vorgelagerten Steinwällen gesichert. Der Strand dahinter reagiert sichtbar auf die veränderten Erosionsbedingungen mit Ausbildung von auf den Küstenschutz zuwachsenden Ausbuchtungen:



Der nasse Strand mit Strandwall und Vordüne ist meist für eine touristische Nutzung ausgeräumt und optimiert. Warum er nasser Strand heißt, zeigte sich nach einer mehrstündigen Überstreichung des offenen Meeres durch starke Sturmwinde: Die Brandung erreicht im Bild die Schutzdüne.


Die Sicherungsmaßnahmen sind aber mehrstufig: Hinter der Düne folgt ein Deich und erst danach höherwertigere Infrastruktur:

Donnerstag, 27. September 2012

Tornado in Bischberg?

Ganz so schlimm wie der Titel es vermuten lässt, hat es uns nicht getroffen - die typisch walzenartig nach unten wabernden Wolken einer Kaltfront, an deren Vorderseite die erwärmten Luftmassen des Tages nach oben gerissen werden und an deren Stelle kalte Luft strudelnd in die Tiefe stürzt, durften wir aber heute Abend von unserem Balkon aus live bewundern. Gespenstisch war, dass es bis zum Eintreffen der Wolkenfront absolut windstill war, obwohl man das nahende Unheil schon deutlich erkennen konnte. Links unten kann man noch vage den störungsfreien Sonnenhimmel erahnen, rechts der Wolkenfront sind schon die Fallstreifen der Hagelkörner zu sehen, die auf der Rückseite lauerten:


Nach wenigen Minuten sah es dann schon so aus (aus sicherer Distanz hinter der Scheibe):


Wenn die Situation Anfang Juli beim Verwüsten unseres Balkons auch nur ansatzweise so ähnlich aussah (es war ja dunkel...), wundert mich nichts mehr - immerhin war da die Luft bei maximalem Sonnenstand ja ohnehin schon ordentlich aufgeheizt und labil. Heute ist übrigens nichts passiert - wir sind ja lernfähig und haben vorher alles ordentlich aufgeräumt.
Dank übrigens an die Wetter-Warnmail des DWD (die ich gestern früh noch für die Warnung vor Nebel belächelt habe - es zogen lediglich ein paar Schwaden über den Main) - im Büro in Gedanken versunken über einer Präsentation hat sie mich dazu gebracht, mich nach einem prüfenden Blick auf das Niederschlagsradar gerade noch rechtzeitig auf's Fahrrad zu schwingen und trockenen Pedals nach Haus zu brausen, solange sich Blitze und Regen schon über Viereth austobten - und den Vortrag lieber daheim fertig zusammenzuklicken...

Sonntag, 23. September 2012

Geschichten vom Wachstum (zum Hinschauen!)

Nachdem sich unsere erste Saison als Hobby-Gärtner zum Ende neigt, muss ich doch noch einmal die Kräfte der Natur in einer kurzen Foto-Doku vergleichend gegenüberstellen. Beispiel ist unsere Kürbispflanze hinter dem Haus auf dem Komposthaufen, an deren Entwicklung nicht nur wir, sondern auch unsere Nachbarn lebhaften Anteil genommen haben und die durch Freischneiden, Zurechtbiegen u.ä. sein Wachstum unterstützt haben.
Los ging alles mit dem (für einen Kürbis etwas verspäteten) Pflanzen von Marie-Christins Geschenk am 02.07 - sozusagen als Notrettung, nachdem das Pflänzchen auf dem Balkon offensichtlich vom akuten Hitzetod bedroht war:


Fast vier Wochen dauerte es, bis sich am 29.07. die Triebe gut erholt hatten. Neue Blätter reckten sich fröhlich in den Himmel und es zeigten sich erste Blüten:


Zwei Wochen später, am 15.08. schickte sich der muntere Kürbis an, die Absperrung des Komposthaufens hinter sich zu lassen:


Dann nahm alles Fahrt auf. Schon zehn Tage am 25.08. war die Absperrung überrankt und die Wiese erreicht:


Wieder eine Woche später am 02.09. kann Anette einen Sprung um fast einen Meter präsentieren:


Zurück aus dem Urlaub trauten wir unseren Augen nicht - zwischenzeitlich war die Hecke erobert und im Hintergrund der Komposthaufen überrankt. Das Bild zeigt den Zustand am gestrigen Samstag (22.09.).


Hier noch mal der Kürbis aus der obigen Bildmitte in der Vergrößerung: fünf faustgroße Früchte haben sich trotz der späten Pflanzzeit tatsächlich noch entwickelt.


Es läuft wohl auf einen Wettlauf zwischen dem ersten Nachtfrost und Früchten wirklicher Kürbisgröße hinaus - wir werden es gespannt verfolgen und hier berichten, wie es ausging!

Dienstag, 18. September 2012

Reisen im August

Nach einem am Ende eher hektischen Sommersemester lohnt sich wieder eine kurze episodische Rückschau auf die Reisen des Sommers:

- Nach Untereuerheim: Zum Staunen über den liebevoll gepflegten High-Tech-Garten und zum DSA-Spielen im Hause Helbig. Da kommen wir immer gerne!

- Nach Wermerichshausen: Zum Kleinen Jonathan (und seinen Eltern und Großeltern), der gar nicht mehr sooo klein ist und einer Rückkehr zur tollsten Hängematte Unterfrankens.

- Dauerhaft in die ERBA: Zu einem etwas moderneren, wenngleich dunkleren neuen Büro.

- Nach Köln: Zum Internationalen Geographentag. Durchwachsenes Niveau der Sessions, ein buntes Völkchen und eine freundliche, aber echt funktional-hässliche Stadt. Wer baut schon eine vierspurige Straße neben einen Dom? Und: Kölsch ist kein Bier. Ich habe ihm jetzt oft genug eine Chance gegeben, um das nun abschließend beurteilen zu können.

- Nach Seeon (innerhalb von 12 Stunden aus  Köln inkl. Aufenthalt in Bischberg nebst Vortragüberarbeitung): Ein kleiner, aber feiner internationaler Workshop zu Place Reserach, auf dem ein paar Große der Zunft ganz nah erlebt werden konnten und ein Spaziergang mit Peter um den verregneten See am Kloster.

- Nach Berlin zu Dagmar: Nur zum Besuch des Zoos waren wir im "Westen". Die alte Stalinallee (jetzt: Karl-Marx-Allee), der Alex und der Hackesche Markt waren dazu einfach zu schön. Und Potsdam liegt nicht wirklich in Westberlin. Unglaublich bunt und vielfältig: da fällt Köln einfach merklich ab.

- Wieder mal nach Graisbach zu Melanie und Jochen: Hanfparty. Natürlich nur Thermo-Hanf zum Isolieren des Dachs im Neubau. Ein gelungenes DJK-Feature, glaube ich!

Mittwoch, 22. August 2012

Erntedank

Was musste ich da gestern auf dem Balkon erleben? Ein Poltern und Rollen hinter mir! Nur durch beherztes Eingreifen konnte ich verhindern, dass der Apfel, der sich da verselbständigt hatte, nicht durch das Balkongitter nach unten fiel. Auf dem Pflanzschild stand doch "September bis November" - sollten die gute Pflege meiner Frau und der üppige Sonnenschein eine vorzeitige Reifung bewirkt haben?

Nachdem das Aufschlagen auf dem Steinboden die Lagerungsfähigkeit des Apfels sicher nicht erhöht hatte, entschieden wir uns nach einem Größenvergleich mit Kauf-Obst für den sofortigen Verzehr. Ein beherzter Schnitt zeigte braune Kerne als Beweis für den Reifeprozess und ein zaghafter Biss zeigte: Hm, lecker, saftig, frisch! Unser erster eigener Apfel! Das sollte vor allem Hannah und Frank freuen: pünktlich zum dritten Hochzeitstag und nach Nullnummern in den Vorjahren (gut, es war schattig und der Efeu kein freundlicher Nachbar) trägt der Baum tatsächlich erst Früchte!

Ein rasches Nachzählen offenbarte, dass sich von ursprünglich 17 Äpfeln nur noch 14 am Baum befanden! Da hatten sich offensichtlich schon vorher zwei weitere selbständig gemacht und den Sprung vom Balkon geschafft! Nachdem für diese Woche wohl noch Gewitter anstehen, haben wir uns daher heute zum Hochzeitstag entschlossen, acht weitere ebenfalls gereifte Äpfel in Sicherheit zu bringen (einen davon direkt in unseren Magen). Anette zeigt die Ernte der Woche:


Mittwoch, 15. August 2012

Sommerliches Kulturprogramm

Nachdem im letzten Jahr durch Umzug und Abschluss der Promotion für Anette kaum mal eine ruhige Minute drin war, haben wir diesen Sommer ein schönes Kulturprogramm an besonderen Orten hinter uns gebracht. Nachdem wir uns das seltsame "1000 Jahre Bamberg"-Calderon lieber geschenkt haben, mussten wir umdisponieren und haben einiges gefunden:

Den Start machten die romanischen Theaterwochen  an der Uni Bamberg; gegeben wurde Casa & Chiesa von Stefano Giannascoli, der das Stück auch selbst inszenierte. Ein verrücktes, kunterbuntes Stück! Wir waren sehr begeistert, erstens ob des ausdrucksstarken und empathischen Spiels (das man sich von ETA-Hoffmann-Theater hier und da auch in dieser Qualität wünschen würde!) und zweitens, weil wir mit Latein-, Spanisch und Urlaubsitalienischkenntnissen so viel verstanden haben, dass wir zumindest an den richtigen Stellen lachen konnten! Mit der am Eingang erhältlichen Kurzbeschreibung konnte man auch der Handlung gut folgen (Anette hat natürlich wesentlich mehr verstanden als ich...) Bei den Hauptrollen hat aus meiner Sicht vor allem der Pfarrer geglänzt - wenngleich wir natürlich viel mehr auf den Kurzauftritt von Vroni hingefiebert haben, der durch den emotionalen Wechsel von Glück zu tiefem Schmerz innerhalb kürzester Zeit ganz gewiss nicht ohne war, was sie aber beeindruckend meistern konnte.

Als nächstes hatten wir uns den "Tumult im Narrenhaus" von Lope de Vega ausgesucht. Das Stück in Bayreuth war übrigens schon allein wegen der Eremitage als Spielort ein echtes Erlebnis und auch im Stück selbst spürte man noch den Charakter der Wanderbühne aus der Zeit, in der ja auch Shakespeare geschrieben hat. Obwohl oder gerade weil es eine Komödie war, wirkten die demaskierenden Stellen ("Kennen Sie das Gefühl, wenn nachts die Angst aus der Wand tritt?" oder "Wir sind alle Narren: manche sitzen im Zuschauerraum und manche spielen hier vorne Theater") umso schwerer. Beim "Happy end" ist jedem klar, dass es absichtlich gesetzt und unrealistisch ist - ich glaube, genau das wollte Lope de Vega...



Zwischendurch wurde es musikalisch: Bei den Rosengarten-Serenaden gab das Titus-Quartett der Bamberger Symphoniker Stücke von Haydn, Beethoven und Brahms. Aufgrund der zweifelhaften Witterung konnten wir leider nicht unter freiem Himmel, sondern nur im Pavillion lauschen, dies tat der Qualität des Vortrags aber keinen Abbruch: Innerhalb weniger Minuten waren wir bezaubert und gingen wie das übrige (wesentlich ältere...) Publikum völlig in der Musik auf. Wenn man ein bisschen kritisieren will, kann man konstatieren, dass die erste Geige "nur" technisch sauber und die Viola kaum herauszuhören war, während die zweite Geige mit Inbrunst und das Cello geradezu innovativ gespielt wurden. Wohl dem, der als Bamberger auf so hohem Niveau meckern kann... Von den Stücken hat mich vor allem Brahms begeistert - Haydn klang wie ein typsiches "Bestellstück" jener Zeit, das irgendein Fürst jener Zeit für Anlass x brauchte und von Beethoven habe ich auch schon Wuchtigeres gehört. Da müssen wir aber sicher noch ein paar Konzerte hören, bevor ich solche Äußerungen kompetent machen kann... Ein erster Schritt ist, dass wir im Winter mal schauen wollen, was so ein Symphoniker-Abo kostet...



Den Abschluss machte mit Hamlet im Felsengarten Sanspareil ein Klassiker, naja, eigentlich war es Hamletine, die Hauptrolle wurde nämlich von einer Frau gespielt... Es war zwar toll, endlich mal das Stück, aus dem ja so viele Zitate als geflügelte Wörter kursieren, aufgeführt zu sehen - das Ensemble brauchte aber ein bisschen Aufwärmphase und auch falscher, lauter Gesang, Gerenne und Gehopse wären bei der Inszenierung entbehrlich gewesen. Der Felsengarten Sanspareil war dagegen etwas besonderes - eine Art gestalteter Waldgarten mitten im Fränkischen Jura!


So viel für heute und bis bald!

Die Hängenden Gärten im Spätsommer

Zum zweiten an diesem Feiertag wieder ein kurzer Blick auf die weitere Entwicklung der Hängenden Gärten. Nachdem ja zuletzt unser Apfelbaum aufgrund der häufigen Gewitter mehrfach in Schieflage geraten war, haben wir nun Nägel mit Köpfen gemacht: Papa Volkmar hat einen ausrangierten Eternit-Topf zur Verfügung gestellt, den Anette hübsch bemalt hat und Papa Gerhard hat mühsam Tag für Tag passende Steine gesammelt, um den Zwischenraum zwischen dem neuen, massiven Übertopf und dem momentan eben bei Stürmen für die Größe des Baumes zu leichten Plastik-Pflanztopf auszufüllen. Wenn die 17 Äpfel geerntet sind und wir den Baum gut über den Winter gebracht haben, wird er a) behutsam zurückgeschnitten und b) direkt in den Eternittopf gepflanzt, damit er auch in den nächsten Jahren standsicher bleibt und weiter viele Äpfel tragen kann.


Der Begriff Hängende Gärten ist jetzt zumindest hier und da angemessen:


Auch die übrigen Blumen scheinen sich rundum wohl zu fühlen - wenn man so intensiv von meiner Frau gepflegt wird, ist das kein Wunder ;)


Verblüfft habe zumindest ich zum ersten Mal im Leben bewusst einen landwirtschaftlichen Jahresgang miterlebt. Erst war - schwupp - die Wiese weg und eine handliche, kleine Maschine formte sie zu den lanschaftsprägenden zylindrischen Murmeln:


 Und kaum waren die Ähren gelb, schon hatten wir ein Stoppelfeld:


Wer erinnert sich außerdem an die viel zu spät gepflanzte, eher kränkliche Kürbispflanze? Die fühlt sich auf dem Kompost pudelwohl und reckt ihre vielen, grünen Triebe munter in die Sonne. Bis zum Ende der Vegetationsperiode wird es wohl immer noch knapp, aber heute habe ich tatsächlich den ersten befruchteten Kürbis entdeckt - wer findet ihn auf dem Foto?


Nachdem die Nachbarn von riesigen Kürbispflanzen berichtet haben , die in früheren Jahren dort schon gewachsen sein sollen, werden wir im nächsten Jahr dort sicher wieder den ein oder anderen Kürbiskern fallen lassen ;)

Unsere Tomatenernte fiel zwischenzeitlich so überreichlich aus, dass wir den Eltern, die uns dankenswerterweise seinerzeit beim Pflanzen behilflich waren, ohne Probleme die ein oder andere Frucht zustecken konnten. Nun neigt sich die Ernte allerdings auch hier langsam dem Ende zu:


Soweit für heute, das Verstauen der winterharten Gewächse wird sicher das nächste große Blog-Thema!

Neues Büro auf der ERBA-Halbinsel!

So, nachdem ich jetzt aufgrund widriger Umstände (ausnahmsweise versuche ich gerade, in der "echten" Welt, also wissenschaftlich zu publizieren) über einen Monat nichts mehr gepostet habe, habe ich für heute einen Dreifach-Rundumschlag vorbereitet. Der muss dann, fürchte ich, wieder bis Mitte September reichen, wenn ich mir mein übriges Programm bis dahin so anschaue...

Anfang August kam dann auch noch der lange erwartete Umzug unserer Büroräume von der "Feki" in die "ERBA" dazu, der hier den Anfang machen soll. Nach eine erstaunlich reibungslosen Umzung (wenn auch um einen Tag verspätet) stellt sich meine neues Büro wie folgt dar:

  

Hatte ich zuvor mehr als genug Sonne, fällt die Aussicht jetzt mehr als mager aus - der Blick fällt auf den nächsten Büroflügel und der einzige Streifen Himmel öffnet sich direkt im Norden:


Aber ich will nicht klagen - wenn die letzten Bauarbeiten abgeschlossen sind, die Umzugshelfer abrücken (noch sind nicht alle vorgesehenen Fachteile angekommen) und mit einer neuen Teilbibliothek und Mensa der Standort abgerundet ist, wird man hier prima arbeiten können!

In jedem Fall freue ich mich dort - nicht nur aufgrund der Nähe zur Landesgartenschau und dem neuen "Nord-Park" über Besucher!

Samstag, 14. Juli 2012

Drachenauge!

So, wie wenn ich nicht schon Nerd genug wäre - jetzt habe ich mich tatsächlich als Rollenspielautor versucht. Zumindest ein kurzes Szenario meines Leib- und Magen-Rollenspiels DSA ist es geworden...

Sonntag, 8. Juli 2012

„Wenn Religiosität ausstirbt, bleiben nur Geisteswissenschaften, um dem Menschen Orientierung zu geben.“


So oder so ähnlich war die These meiner Frau, die mich nachdenklich gemacht hat. Stirbt Religion wirklich aus? Können Geisteswissenschaften wirklich diese Lücke ausfüllen? Inwieweit das so ist, will ich mit dem heutigen Blog ein bisschen eingehender untersuchen (nicht, dass ich nicht schon ein paar Wochen darüber nachgegrübelt hätte). Ich bin mir sicher, dass sich auch genügend Argumente finden lassen, die dagegen sprechen. Ich bin lediglich neugierig, wie weit sich diese Argumentationslinie treiben lässt, wenn man die Prämisse, dass Religiosität ausstirbt zunächst als gegeben annimmt.
Ein paar Beispiele vorneweg: für mich ist die Militarisierung der Fußballstadien mit Pyrotechnik, Schlägereien und Spielunterbrechungen, die in der letzten Saison zu beobachten war, ein genauso beredtes Symptom dafür wie Komasaufen oder Psychopharmaka. Das Greifen nach dem scheinbar goldenen Ausweg aus dem alltäglichen Nichts und die anschließende Verzweiflung, wenn das die Probleme nicht löst (wie auch?) stehen für mich deutlich für die hilflose Suche nach Sinn in unserer ach so säkularen Gesellschaft. Wohl dem, der wie die Macher der Kampagne „Glücklich leben ohne Gott“ offensichtlich solide in humanistischem Gedankengut gegründet ist. Sollte das pikanterweise eine Form von Glaube sein?

Warum scheidet Naturwissenschaft aus, wenn es um Orientierung geht?

Weil Naturwissenschaft per se die maximale Entfremdung von unserer Alltagserfahrung darstellt und nur deshalb in der Lage ist, Wahrheiten zu entdecken, die uns sonst verborgen blieben. Eine auf dieser Weise entdeckte (konstruierte?) Wahrheit kann freilich immer nur einen Aspekt unseres Menschseins (nämlich den rational-logische) ansprechen.
Mein Lieblingsbeispiel ist immer die Schachnovelle – und ich glaube es gibt genug Programmierer und Softwareentwickler, die auf eine ähnlich manische Weise von der scheinbar mühelosen Beherrschbarkeit und Beherrschung aller Probleme durch ihr (mehr oder minder) konstruktiven Tuns gefesselt sind, dass sie sich des dadurch entstandenen Mangels in ihrem seelischen Gleichgewicht erst viel zu spät bewusst werden. Dies ist ein Standpunkt und keine empirische Studie – dennoch habe ich schon mehrmals diese oder ähnliche Erzähllinien gehört: gut bezahlter Softwareentwickler, 60-Stunden-Woche, mit 40 Sinnkrise, jetzt Gärtner oder im Kloster, scheut den Computer wie der Teufel das Weihwasser. Sicher, μηδὲν ἄγαν, aber gerade dieses Argument nach dem Herstellen eines Gleichgewichts verweist in seiner Bezogenheit auf ein Anderes auf eine Erklärungslücke rein naturwissenschaftlichen Vorgehens.
Apropos Erklärungslücke: Naturwissenschaft erklärt nichts. Die Aussage, dass ein bestimmter Vulkan mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitintervall eine Eruption einer bestimmten Stärke haben wird (selbst wenn es sich exakt vorhersagen ließe) muss völlig unabhängig von jeglichem Handlungskontext gedacht werden, um wertungsfrei erforscht werden zu können. Erst wenn dort Menschen leben, erhält eine solche Aussage Relevanz für Entscheidungen, die zu treffen sind. Die Aussage „Dort leben Menschen, die das noch nicht wissen – wir müssen sie unbedingt über die Risiken aufklären!“, der sie die gottlos Glücklichen sicher ad hoc anschließen würden, ist nicht mehr Teil naturwissenschaftlichen Arbeitens.

Was ist das eigentlich, wenn wir nach Orientierung suchen?

Die Natur einer nicht endgültig beantwortbaren Frage scheint schwer, es gibt jedoch einige Grundzüge, die leicht sichtbar zu machen sind. Zunächst die Ortsmetapher: „Wo gehöre ich hin?“ Die Suche nach dem Platz im Leben repräsentiert die räumliche Strategie, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wann habe ich ihn gefunden? „Ubi bene, ibi patria!“ Aha, also eigentlich die Suche nach einem Sozialraum. Dazu gesellt sich die performative Metapher „Was soll ich (in dieser Lage) tun?“ Antworten darauf füllen ganze Handbücher – von der Στοά bist hin zur Esotherik. Zugrunde liegt die Suche nach Routinen, die den eigenen Vollzug von Dasein strukturieren und zeitlich rhythmisieren und dadurch Leben einfacher machen. Das bestechende an Adam Smith's Entwurf eines Wertesystems, das nur auf einem spontanen, empathiegeleiteten Urteils beruht, ist allerdings, dass er durch sein Modell eine fast algorithmische Lösung für die soziale Konstruiertheit von Orientierung anbietet. Noch radikaler wäre es, davon auszugehen, dass jeder Kommunikationsakt Dasein verankert und Halt bietet. Ich nenne es gerne die Teppich-Metapher (nachdem ich mich ja zuletzt kritisch gegen „Soziale Netzwerke“ geäußert hatte): Kettfäden sind die familiären Bezüge, in die unser eigenes Sein eingebunden ist, Schussfäden alle Freundschaften, mit denen wir gemeinsam durch die Zeit reisen. Jede Verbindung zu einem anderen Menschen liefert in gewisser Weise Halt, sei es ein gutes Wort, eine gemeinsame Unternehmung oder auch nur ein Lächeln. Jeder Kommunikationsakt festigt ein unsichtbares Band zwischen zwei Menschen oder lockert es – das erstaunliche daran ist aber wohl doch, dass das Gewebe (oder von mir aus auch Netz) für die meisten Individuen immer tragfähig bleibt oder zumindest Optionen zum Festhalten bietet.

Kann Geisteswissenschaft das alles liefern?

Sicher nicht. Ein paar Aspekte bekommt man aber sicher zusammen. Sprachenwissenschaft kann uns helfen, schon einmal Gedachtes wieder nutzbar zu machen oder überhaupt unseren sprachlichen Erkenntnisrahmen auszuloten. Geographie und Geschichtswissenschaften können helfen zu verstehen, nach welch einfachen und doch gerade dadurch unserem gedanklichen Zugriff entzogenen Konstruktionsprinzipien wir uns räumliche und zeitliche Narrative gestalten, die wir für wahr halten und an denen wir uns orientieren. „Dort ist es halt so!“ vs. „Weil das damals war, ist es heute so!“
Wirklich Orientierung geben kann sicher die Philosophie, der ich ein Verstehen-Wollen von Mensch-Sein und sich dieser Suche emotional verbunden fühlen zuschreibe. Wohl dem, der am Ende seiner Überlegungen zu dem Schluss kommt: „Dies habe ich durch Philosophie gelernt, dass ich tue ohne befohlen zu werden, was andere nur aus Furcht vor dem Gesetz tun!“ Nicht umsonst ist christliche Mythologie voller Verweise auf die antike Philosophie und selbst in der Abgrenzung von ihr bestimmt. Fakt ist aber auch: In allen Gesellschaften war eine solche erleuchtende Selbsterkenntnis ein Narrativ der Eliten – von Platon über den Humanismus und Utilitarismus bis hin zum Kommunismus – und ist letztlich gescheitert, weil ein solches Maß an Selbstbeherrschung kaum einige wenige Menschen aufbringen können, um ohne Fehler stets nach solch hehren Maximen handeln zu können. Wie heißt es in der Στοά? Es ist egal, ob wir hundert oder einen Meter unter der Wasseroberfläche ertrinken. Orientierung beinhaltet also auch Handlungsvorlagen, Gesetze, die helfen, wenn ein erkennender Ratschluss gerade nicht greift.

Jenseits von Wissenschaft

Ich behaupte: auch Geisteswissenschaft ist nur ein Teil von Mensch-Sein. Wirklich helfen kann sie dem Menschen nur, wenn er sich gestaltend darauf einlässt: Literatur und Kunst können helfen, den Alltag nicht ganz so furchtbar ernst zu nehmen oder gerade im Gegenteil durch Eleos und Phobos zumindest kurzzeitig unseren gewohnten Trott aufzubrechen, ein gesundes Maß an Verrücktheit in unser Leben zu bringen, das uns hilft, das Gewohnte zu ertragen. Das setzt aber voraus, dass derjenige überhaupt lesen, ins Theater oder die Ausstellung gehen will. Die alltägliche Praxis, das große Spiel, die „Geschichten, die das Leben schreibt“, die scheinbar alltäglichen Gespräche im Teppich des Lebens bieten aber sicher auch für den kleinen Mann einen Bezugspunkt, mithilfe dessen er sich täglich neu hinterfragen und auf den er sein Handeln gründen kann.
Als Fazit bleibt mir nur der Versuch, Shakespeare mit der orientierungsgebenden Macht der Narrative zusammenzuführen: Was bleibt an Erkenntnis, wenn ein jeder von uns erfüllt vom Verlangen nach Orientierung zusammen mit anderen, die ihn halten und inspirieren, zu unbekannten Zielen unterwegs ist? „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab. Sein Leben lang spielt einer manche Rollen!“

Dienstag, 3. Juli 2012

Die Hängenden Gärten in Gefahr!

Bevor ich wieder zwischendurch Philosophisches einstreue, muss ich heute doch noch einmal die Ereignisse des letzten Wochenendes revue passieren lassen. Schließlich waren unsere Hängenden Gärten in Gefahr (bzw. wir haben sie leichtsinnig dorthin gebracht und in der Folge auch uns...)

Das Wochenende fing ganz beschaulich mit einem Blick auf den Mond am Freitagabend an, der wie ein dick ausgefülltes umgekehrtes C, also zunehmend am Himmel stand, dann und wann hinter den Schwaden eines in Auflösung begriffenen Gewitterambosses verschwand und dabei eine gespenstische regenbogengleiche Halo auf den Nachthimmel legte, solange die obersten Wolken im Westen noch ganz leicht das Restlicht der längst hinter dem Horizont entschwundenen Sonne auffingen - um diese Jahreszeit ist es ja nie richtig dunkel.

Samstag folgte dann eine tolle Bootstour mit Kanu und Kajaks auf der Itz - so eine muntere Gesellschaft hatten wir schon lange nicht mehr zusammenbekommen! Größere Stromschnellen waren wie geplant ausgeblieben, so dass wir den letzten Teil sehr gemächlich und entspannt zurücklegen konnten (teils als Floßgemeinschaft vertäut, ob der Hitze hier und da auch mit munteren Wasserspielen - wer hat eigentlich angefangen?). Der Hinweis unseres Bootsverleihers auf aufziehende Gewitter hätte uns ob der Hitze stutzig machen können, doch auch bei ersten Wolken konnten wir den Tag bei einem gemeinsamen Kellerbesuch ausklingen lassen.

Auch die sturmartigen Windböen, die eine in Entstehung befindliche Gewitterwolke in strudelnden Fallwinden auflösten, Laub und Staub durch die Gegend wirbelten und dabei Bamberg noch mehr aufheizten, ließen in uns noch keine Vorahnung reifen. Selbst zuhause, als wir den schief hängenden Apfelbaum aus seiner misslichen Lage befreien musste, dachten wir nur, das Gröbste sei überstanden und kamen nicht auf die Idee, dass eine überaus heftige Unwetterfront im Anmarsch war. Wir ließen all unsere Pflanzen und Balkonutensilien wie gewohnt dort zurück - so kamen wir zu einem zweifelhaften nächtlichen Abenteuer. In der Chronologie der Ereignisse (teils rekonstruiert):

1) Tischplatte wird von einer Böe erfasst und kracht ins Geländer, ein Tischbein wird vom Balkon geweht. Wir horchen auf.
2) Ein zweites Krachen und deutlich vernehmbare Windböen. Apfelbaum und Jasmin hängen mit Schlagseite in den angrenzenden Pflanzen
3) Anette und Dominik stürzen in Schlafanzug auf den sturmumtosten Balkon
4) Der Strom fällt aus. Einzige verbleibende Lichtquelle sind die Solarlampe auf dem Balkon (und die näher rückenden Blitze).
5) Anette beginnt, Pflanzen auf der talaufwärts gelegenen Sturmseite in Sicherheit zu bringen, Dominik stützt den Apfelbaum (= Armdrücken mit dem Wind...)
6) Eine neue Böe. Die Zuckerhutfichte samt Solarlampe fällt um. Zwei Unterteller werden krachend am Geländer zerschlagen und regnen auf den Rasen darunter.
7) Ein Stuhl wird vom Wind erfasst, um die Ecke geweht, faltet sich im Flug zu einem gefährlichen Diskus zusammen, bleibt aber glücklicherweise zwischen dem Topf des Apfelbaums und dem Geländer stecken, ohne jemand zu treffen.
8) Regen setzt ein. Waagrecht entlang der breiten Balkonseite bis ins Arbeitszimmer!
9) Wir bringen mithilfe der Solarlampe bei nachlassenden Böen (aber klatschnass) alle übrigen Pflanzen in Sicherheit (= nach drinnen).
10) Unruhige Nacht.
11) Die Schäden werden inventarsiert (zwei Unterteller, drei diesjährige Triebe vom Apfelbaum, etwas Pflanzerde). Alle Früchte hängen erstaunlicherweise immer noch fest an den dazugehörigen Pflanzen.
12) Tischbein und ein Untersetzer haben den Sturz vom Balkon unbeschadet überstanden
13) Aufräumarbeiten, Planungen für Prävention bei Nachfolgeereignissen.

Halten wir aus Sicht der geographischen Risikoforschung fest: schuld an Katastrophen ist wie immer nicht die Natur, sondern die fehlende Prävention. Intervention setzt die Retter teils erheblichen Risiken aus. Die Vulnerabilität war durch die landschaftliche Lage am Dorfrand und die fehlende Sicherung der beweglichen Objekte gegeben, es gab keine Frühwarnung (bzw. keines der Anzeichen wurde zum Nachschlagen bei einem der üblichen Wetterdienste genutzt). Positiv jedoch zum Stichwort Resilienz: ich hätte nie gedacht, was Pflanzen so alles wegstecken können - purzeln munter durch die Gegend und es fehlen weder Apfel noch Tomate. Schlussendlich wird auch die coping capacity nur mit geringen Kosten gefordert sein. Dennoch: nach der Katastrophe ist vor der Katastrophe - deswegen werden wir ab sofort schön einen Blick auf den Wetterbericht werfen und unsere Pflanzen nach dem neuen Evakuierungsplan in Sicherheit bringen, wenn wir länger außer Haus sind oder sich Unwetter ankündigen. Dazu sind uns unsere blättrigen Freunde mittlerweile einfach viel zu sehr ans Herz gewachsen!

Ach ja, Zuwachs gibt es dank Familie Helbig auch: Kürbispflanze ganz klassisch auf dem Komposthaufen! Mal sehen, was zu Halloween aka Erntedank draus geworden ist!


Sonntag, 24. Juni 2012

Digitale soziale Netzwerke: Selbstvollzug von Dasein – Fahrlässiger Totschlag von Zeit?


Der Hintergrund

Es macht Freude, das Leben von Menschen zu verfolgen, die uns etwas bedeuten, „selbst wenn wir keinen anderen Vorteil daraus ziehen, als Zeuge davon zu sein“, wie Adam Smith, der große Moralphilosoph, den so viele zu Unrecht nur als Urvater der Wirtschaftswissenschaften kennen, so treffend anmerkte. Reziprok dazu macht es natürlich Freude, seine eigene Geschichte fortschreiben, nach außen sichtbar zu sein, einen Schau-raum im Wortsinn zu schaffen, der uns anderen mitteilt, der vorderseitige Raum des Alltags, wie ihn Giddens beschrieben hat.
Normalerweise schreiben sich solche Erfahrungen in die zeitgeographischen Korridore unseres Alltags ein, sind es die anderen, die positive Irritation von außen setzen, an der wir uns erfreuen. Welche Verschiebungen sozialer Welt ergeben sich aber durch den Einsatz von überall verfügbarer „Personal IT“, seien es Smartphones, Netbooks oder Tablets? Bewusst geht es hier wiederum nicht um die Bewertung der „kostenlosen“ Dienste, die wir in Daten und Privacy bezahlen, sondern um ihre soziologischen Folgen.

Die Lösungen im Vergleich

  • Wiki: Ein gemeinsamer Wissensbestand, möglichst aktuell, mit einer nachvollziehbaren Geschichte. Wissen ist sozial produziert und existiert erst infolge des Aushandlungsprozesses in der Kommunikationsituation. Ein Wiki steht und fällt also zum einen mit der Anzahl der an ihm Beteiligten, zum anderen verfestigt sich die verfügbare Information mit zunehmender Zeit. Ein Wiki ist eine geniale Erfindung mit einer (und das sage ich als Wissenschaftler) im Großen und Ganzen brutal guten Qualität.
  • Twitter: Viele, rasch folgende Kommunikationsprozesse. Nicht gerade Wissen, sondern ein reines Weiterplappern irgendeiner Beobachtung oder Bemerkung. Das Weitertragen einer Information mit einer je Retweet abnehmenden Bedeutung (entsprechend eines „marginal return“-Modells: „ja, ist ja gut, das habe ich jetzt schon fünf Mal gelesen…“)
  •  Facebook und Google Plus (so, wie ich es erlebe): Verlorene Freunde wiederfinden (die man aber vielleicht aus gutem Grund verloren hat). Noch banaler: Häufig nicht einmal mehr eine Information, die man als solche bezeichnen könnte. Ein Weiterplappern flacher Scherze, trivialer Alltagsinformationen, schlechter Party-Bilder oder Fotos von Kuriosa. Die degenerierte Variante des guten alten Poesiealbums und gleichzeitig genauso wenig eine zutreffende Repräsentation von Wirklichkeit.
  • Homepage: Statisch, seriös und repräsentativ. Irgendwas zwischen Visitenkarte und Lebenslauf, das uns so charakterisiert, wie wir selten wirklich oder zumindest wirklich selten sind.
  • Blog: Ein geronnener Gedanke. Etwas, das früher auf ein Stück Papier und dann zur Hälfte in eine Schublade und zur Hälfte im Papierkorb verschwunden wäre. Ein Essay, bestenfalls, ein Tagebuch sonst. Ich habe auch schon selbsttherapeutische Versuche zur Problembewältigung gesehen. Die Inversion des Smith‘schen Gedanken. Ich nehme nicht mehr Anteil, sondern hoffe darauf, dass irgendjemand doch bitte an mir Anteil nehmen möge.

Die Abhängigkeit

Die gute Nachricht: Kinder spielen wieder draußen. Das Smartphone piept ja, wenn bei Facebook was passiert ist. Sie können sich also wieder Ball spielen trauen, weil sie in der Zwischenzeit ja nicht ohne ihr Wissen digital gemobbt werden können. Frappierendstes Beispiel der Unfähigkeit zur Facebook-Nichtteilnahme ist der Post eines Schulkinds: “Mama, ich kann jetzt nicht, ich hab grad Physik!“.
Anstelle des Vergnügens, Zeuge davon zu sein, ist die Angst getreten, etwas zu verpassen. Eine Angst, abgekoppelt zu sein von Kommunikationsprozessen. In der Folge erfolgt ein beinahe zwanghaftes Abrufen des Facebookstatus bei jeder Gelegenheit, „ich will ja nur wissen, was los ist, nur schnell die Mails checken, nur noch kurz die neuesten Schlagzeilen, nur schnell…“
Es ist die Inversion des Giddenschen Gegenstücks zum Schaulaufen im vorderseitigen Raum, des rückseitigen Raums, des Raums der Privatheit, in dem wir einfach mal entspannt durchatmen können, wenn diese, zumeist räumlich abgegrenzte Oase der Ruhe in der manischen Anteilnahme an der Welt anderer verloren geht.
Was ich an mir selbst wahrnehme: je entspannter ich bin, desto weniger brauche ich Facebook. Nur im Stress, wenn man sich selbst nicht mehr beschäftigen kann, könnte wenigstens dort noch etwas Positives passieren. Ein faustischer Pakt! Es handelt sich um kein Werkzeug zum Glück, zur Dokumentation des eigenen Daseins, sondern einfach nur um einen Kommunikationsoverkill, einen fahrlässigen Totschlag von Zeit, der uns erst auffällt, wenn ein Vieles an Zeit dadurch vernichtet wurde.
Facebook ist für mich eine Art besseres Email-Konto geworden für Leute, denen ich meine Emailadresse nicht geben will. Ich kann es wieder gut aushalten, wenn mich Facebook alle drei Tage mahnt, ich könne etwas verpasst haben. Ich weiß, was ich stattdessen in der Zwischenzeit alles erleben konnte.