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Montag, 7. April 2014

Die Idee eines nachhaltigen Hedonimsus

Ich mag Vierfeldertafeln. Sie sind so schön einfach und schaffen doch gleich begriffliche Komplexität, wenn es darum geht, zwei unterschiedliche Ordnungsskalen gleichzeitig auf ein Problem anzuwenden. Um mein aktuelles Phänomen darzulegen, auf dem ich aktuell herumkaue, muss ich etwas ausholen. So ist es bekannt, dass im menschlichen Gehirn unmittelbar Emotionen auslösen. Parallel dazu werden Sinnesreize neben der räumlichen auch durch die temporale Pipeline gejagt und dadurch etwas erhalten, was man zunächst noch Rhythmus (Frequenzanalyse) und Struktur (räumliche Konfiguration) nennen kann. Erst danach wird schrittweise Weltwissen und dadurch Bedeutung darum gelegt. Ganz am Ende steht das Broca-Areal, das als Tie Breaker bei unklarem Input fungiert. Das ist natürlich alles Halbwissen, das mir in dieser Form von einem Vortrag über Psycholinguistik in Erinnerung geblieben ist, ich will aber auf etwas anderes hinaus, und dazu brauche ich die Vierfeldertafel.

Strukturell kann man also im menschlichen Geist (unter Ignoranz der Differenz mind/Seele der kontinentaleuropäischen bzw. angelsächsischen Philosophie) im Gehirn verorten wollen, haben wir also Fühlen und Denken als wesentliche Zugänge zur Wirklichkeit. Dazu hätte uns die antike Philosophie gereicht, aber ich finde es faszinierend zu wissen, wie es funktioniert. Denken und Fühlen sind also meine zwei Achsen, die mein Koordinatensystem abstecken. Als Extremwerte will ich an jeder Seite ein zu früh und zu spät antragen; es ergeben sich also Situationen (oder evtl. Charaktere), in denen das Gefühl vorauseilt und der Gedanke nachhängt, der Gedanke vorauseilt und das Gefühl nachhängt oder beide für die Situation zu früh oder zu spät kommen. In der Mitte gibt es etwas, das man den Flow nennen könnte, das Gefühl, dass sich alles im richtigen Moment ereignet, die Umwelt sich wie geplant oder erhofft verhält und eigene Handlungen genau so einwirken, wie es der eigenen – kognitiven wie körperlichen Rhythmik – entspricht. Künstler haben das in ihrem Schaffensprozess, manche empfinden so etwas beim Tanzen oder beim Sport, mitunter lässt sich das sogar beim Programmieren oder auf der Arbeit erleben, wenn man gut Fortschritte macht. Fast immer ist es sehr euphorisiernd, aber fast nicht vorherzusehen und schon gar nicht durch angestrengtes Bemühen zu erreichen. Es erfodert die Fähigkeit loszulassen, oder zumindest einzutauchen, sich total auf etwas einzulassen. Das eigene Ich ist eigentlich eine Differenz zum Flow. Was aber, wenn Denken und Fühlen aus dem Rhythmus kommen? Was fehlt uns dann eigentlich?

Wenn Fühlen und Denken der Situation vorauseilen, muss auf die Welt gewartet werden. Wir empfinden Unruhe darüber, dass sich die Früchte unserer Handlungen evtl. nicht unmittelbar einstellen wollen, dass uns etwas oder jemand aufhält. „Du stiehlst mir meine Zeit!“ oder „Zeitverschwendung“ sagen wir und werden uns bei nächster Gelegenheit Situationen zuwenden, die schneller ablaufen. Wenn Fühlen und Denken beide hinterherhängen können wir der Situation nicht schnell genug folgen. In Stresssituationen können wir gar keine Entscheidung mehr treffen, wir blockieren uns selbst und andere. In ruhigen Situationen stellt sich das Gefühl, dass es ein Flow hätte sein können erst ein, wenn die Situation verbraucht ist. Wir können es nur noch nachstellen und daraus Freude ziehen. Wenn das Fühlen vorauseilt und das Denken hinterherhängt treffen wir teils unliebsame Entscheidungen für uns und andere. Handlung im Affekt sagen wir, wenn wir im Eifer des Gefechts Dinge sagen oder ins Rollen bringen, die wir allzu gerne aufhalten würden, aber nicht mehr können. Eilt das Denken voraus und die Emotion warnt uns nicht, haben wir häufig soziale Folgen unseres Tuns oder Denkens übersehen. Selbst wenn sie inhaltlich korrekt sind, können sie andere verletzen, vor den Kopf stoßen, unmoralisch oder asozial sein.

Was nun, wenn wir statt Situationen Charaktere annehmen? Typ I ist der hyperaktive, der sich durch seine Umwelt immer gebremst fühlt und bei langatmigen Tätigkeiten schnell die Lust verliert. Typ II ist der tragische, der sich über alles klar wird, wenn die Situation vorüber ist. Typ III würden wir klassisch als emotional bezeichnen, Typ IV als kühl-rational. Ihnen allen ist ihr gemeinsam, dass ihre Rhythmus und innere Struktur teilweise an ihrer Umwelt vorbeigehen, nur bei den letzten beiden kann es aber zu der Situation kommen, dass sie ihr teilweise emotionales bzw. vernüftiges Übereinstimmen mit der Siutation als partiellen Flow begreifen und die jeweils andere Dimension völlig ignorieren. Fehlt ihnen also die Selbstreflexion, so dass sie ihren Habitus als Maß der Dinge, quasi als Ersatzflow und alles andere als defizitär begreifen, werden sie gefährlich. Denn was nützt mir jemand, der handelt ohne an die langfristigen Konsquenzen zu denken, seien es Gedankenlosigkeit wie fehlendes Empfindungsvermögen?


Ich will nicht ohne ein Empfehlung, eine Maxime schließen. Mit einem Kollegen habe ich vor ein paar Monaten bei Glühwein die Idee eines nachhaltigen Hedonismus entwickelt: einer Genusssucht, die das Leben liebt, aber nie so dumm wäre, durch unbedachte Folgen sich selbst die Grundlage zu entziehen. An diesem Gedanken halte ich fest, solange ich mich weiter bemühe, recht zu denken und zu fühlen.

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