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Sonntag, 24. Juni 2012

Digitale soziale Netzwerke: Selbstvollzug von Dasein – Fahrlässiger Totschlag von Zeit?


Der Hintergrund

Es macht Freude, das Leben von Menschen zu verfolgen, die uns etwas bedeuten, „selbst wenn wir keinen anderen Vorteil daraus ziehen, als Zeuge davon zu sein“, wie Adam Smith, der große Moralphilosoph, den so viele zu Unrecht nur als Urvater der Wirtschaftswissenschaften kennen, so treffend anmerkte. Reziprok dazu macht es natürlich Freude, seine eigene Geschichte fortschreiben, nach außen sichtbar zu sein, einen Schau-raum im Wortsinn zu schaffen, der uns anderen mitteilt, der vorderseitige Raum des Alltags, wie ihn Giddens beschrieben hat.
Normalerweise schreiben sich solche Erfahrungen in die zeitgeographischen Korridore unseres Alltags ein, sind es die anderen, die positive Irritation von außen setzen, an der wir uns erfreuen. Welche Verschiebungen sozialer Welt ergeben sich aber durch den Einsatz von überall verfügbarer „Personal IT“, seien es Smartphones, Netbooks oder Tablets? Bewusst geht es hier wiederum nicht um die Bewertung der „kostenlosen“ Dienste, die wir in Daten und Privacy bezahlen, sondern um ihre soziologischen Folgen.

Die Lösungen im Vergleich

  • Wiki: Ein gemeinsamer Wissensbestand, möglichst aktuell, mit einer nachvollziehbaren Geschichte. Wissen ist sozial produziert und existiert erst infolge des Aushandlungsprozesses in der Kommunikationsituation. Ein Wiki steht und fällt also zum einen mit der Anzahl der an ihm Beteiligten, zum anderen verfestigt sich die verfügbare Information mit zunehmender Zeit. Ein Wiki ist eine geniale Erfindung mit einer (und das sage ich als Wissenschaftler) im Großen und Ganzen brutal guten Qualität.
  • Twitter: Viele, rasch folgende Kommunikationsprozesse. Nicht gerade Wissen, sondern ein reines Weiterplappern irgendeiner Beobachtung oder Bemerkung. Das Weitertragen einer Information mit einer je Retweet abnehmenden Bedeutung (entsprechend eines „marginal return“-Modells: „ja, ist ja gut, das habe ich jetzt schon fünf Mal gelesen…“)
  •  Facebook und Google Plus (so, wie ich es erlebe): Verlorene Freunde wiederfinden (die man aber vielleicht aus gutem Grund verloren hat). Noch banaler: Häufig nicht einmal mehr eine Information, die man als solche bezeichnen könnte. Ein Weiterplappern flacher Scherze, trivialer Alltagsinformationen, schlechter Party-Bilder oder Fotos von Kuriosa. Die degenerierte Variante des guten alten Poesiealbums und gleichzeitig genauso wenig eine zutreffende Repräsentation von Wirklichkeit.
  • Homepage: Statisch, seriös und repräsentativ. Irgendwas zwischen Visitenkarte und Lebenslauf, das uns so charakterisiert, wie wir selten wirklich oder zumindest wirklich selten sind.
  • Blog: Ein geronnener Gedanke. Etwas, das früher auf ein Stück Papier und dann zur Hälfte in eine Schublade und zur Hälfte im Papierkorb verschwunden wäre. Ein Essay, bestenfalls, ein Tagebuch sonst. Ich habe auch schon selbsttherapeutische Versuche zur Problembewältigung gesehen. Die Inversion des Smith‘schen Gedanken. Ich nehme nicht mehr Anteil, sondern hoffe darauf, dass irgendjemand doch bitte an mir Anteil nehmen möge.

Die Abhängigkeit

Die gute Nachricht: Kinder spielen wieder draußen. Das Smartphone piept ja, wenn bei Facebook was passiert ist. Sie können sich also wieder Ball spielen trauen, weil sie in der Zwischenzeit ja nicht ohne ihr Wissen digital gemobbt werden können. Frappierendstes Beispiel der Unfähigkeit zur Facebook-Nichtteilnahme ist der Post eines Schulkinds: “Mama, ich kann jetzt nicht, ich hab grad Physik!“.
Anstelle des Vergnügens, Zeuge davon zu sein, ist die Angst getreten, etwas zu verpassen. Eine Angst, abgekoppelt zu sein von Kommunikationsprozessen. In der Folge erfolgt ein beinahe zwanghaftes Abrufen des Facebookstatus bei jeder Gelegenheit, „ich will ja nur wissen, was los ist, nur schnell die Mails checken, nur noch kurz die neuesten Schlagzeilen, nur schnell…“
Es ist die Inversion des Giddenschen Gegenstücks zum Schaulaufen im vorderseitigen Raum, des rückseitigen Raums, des Raums der Privatheit, in dem wir einfach mal entspannt durchatmen können, wenn diese, zumeist räumlich abgegrenzte Oase der Ruhe in der manischen Anteilnahme an der Welt anderer verloren geht.
Was ich an mir selbst wahrnehme: je entspannter ich bin, desto weniger brauche ich Facebook. Nur im Stress, wenn man sich selbst nicht mehr beschäftigen kann, könnte wenigstens dort noch etwas Positives passieren. Ein faustischer Pakt! Es handelt sich um kein Werkzeug zum Glück, zur Dokumentation des eigenen Daseins, sondern einfach nur um einen Kommunikationsoverkill, einen fahrlässigen Totschlag von Zeit, der uns erst auffällt, wenn ein Vieles an Zeit dadurch vernichtet wurde.
Facebook ist für mich eine Art besseres Email-Konto geworden für Leute, denen ich meine Emailadresse nicht geben will. Ich kann es wieder gut aushalten, wenn mich Facebook alle drei Tage mahnt, ich könne etwas verpasst haben. Ich weiß, was ich stattdessen in der Zwischenzeit alles erleben konnte.

Samstag, 23. Juni 2012

Die Hängenden Gärten von Bischberg - continued

Nachdem man mittlerweile kaum noch am Apfelbaum vorbeikommt (ich musste schon Äste hochbinden, so dicht ist er mit Äpfeln behängt), lohnt sich ein kurzer Zwischenblick auf die mittlerweile hier und dort tatsächlich hängenden Gärten von Bischberg.

Zunächst haben wir für das allabendliche Gießen einen Schlauch nebst Trommel angeschafft, weil das Gießer-Schleppen echt in die Arme geht:
Dazu kommen diverse Neuerwerbungen; im Einzelnen von links nach rechts:
  • Mittagsblume vor Zuckerhutfichte
  • ein kleiner Strauchblüher
  • ein Olivenbaum (-bäumchen? Ernten werden wohl erst die Enkel...)

Von Anja und Matthias hat sich dieser üppig blühende Jasmin dazugesellt:


Die Glockenrebe hat sich rasant ausgebreitet. Noch spendet sie zwar keinen Schatten, mein ursprünglich als überdimensioniert ausgelegtes provisorisches Rankgitter aus Schnur hat sich aber bereits nach anderthalb Monaten als zu klein erwiesen...


Zwischendurch schimmert es schon saftig rot durch die Tomatenblätter! Unser Balkon hat, glaube ich, die typische südwestexponierte Weinberg-Insolation - mal sehen, auf wie viel Grad Oechsle es unsere Tomaten bringen ;)


Verblüffend, wie schnell am Kaulberg noch darbende Früchte wachsen; wieder von links nach rechts:
  • Äpfel (ca. 3cm Durchmesser; sie bekommen schon rote Bäckchen)
  • Jalapeno-Paprika
  • Die am weitesten gereifte Tomatenrispe - die Tomate rechts oben musste gerade für's Frühstück dran glauben - lecker!


Und noch etwas wächst natürlich mit jedem Sieg: die Hoffnung darauf endlich mal wieder einen internationalen Titel zu holen (Ooooh, wie ist das schön...)!


Donnerstag, 7. Juni 2012

Geschichten vom Wachstum (und vom Wegschauen)


Die These vom angemessenen, stetigen Wachstum aus ökonomischer Sicht soll heute gar nicht Kern der Betrachtung oder besser der Kritik in ihrer Reinform als differenzierendem Denken sein, sondern vielmehr das Nachdenken über das Wachstum a sich, das uns scheinbar unaufhörlich überall umgibt. Zum ökonomischen Aspekt nur so viel vorweg: wenn ein System als in seinen Ressourcen beschränkt gedacht wird, wenn also sowohl durch materielle Grundlagen und effizientere Organisation des Umgehens damit lediglich ein neuer Aspekt zur Dominanz gebracht werden kann und andere Aspekte dafür weichen müssen, kann nicht wirklich von Wachstum gesprochen werden. Ein Beispiel wäre das IT-Zeitalter mit energieeffizienten Rechnern und einer Fülle an digitalen Dienstleistungen. Die Summe an Arbeitsleistung, die (sicher nicht ganz zu Unrecht) darauf verwandt wird, lässt jedoch viel Wissen handwerklicher Art, das im traditionellen Gedächtnis ganzer Teilgesellschaften bewahrt wurde, hinter sich. Dieser Blog könnte nicht in der Form geschrieben werden, wenn nicht ein Rückgrat an IT (und ungleicher Verteilung materieller wie autoritativer Ressourcen über den Globus) dafür den Platz geschaffen hätten (Ob das Internet ein Ort oder ein anderswo ist, kann ich vielleicht in ein/zwei Jahren sagen). Dennoch: alles, das Kapazitäten bindet (mir gefällt im Englischen die Formulierung „take place“ – etwas nimmt sich seinen Ort), schränkt dessen Verfügbarkeit für anderes ein, wenn sie sie nicht sogar unmöglich macht.

Die erstaunlich einfache Erklärung liegt im gedanklichen Wegschauen. Dies lässt sich auch ohne Aristoteles erklären, obwohl die folgenden Gedanken sicher einem aufmerksamen Leser der Kategorienschrift nicht ganz unbekannt sein dürften. Ein Großteil des (vor diesem Hintergrund vielleicht nur gefühlten) Erfolgs der Menschheit liegt sicher in der kognitiven Blindheit für die Negation. Selbst eine sprachlich-gedankliche Negation bereitet uns ja schon Schwierigkeiten. Die Literatur ist voller Gedankenspielereien wie „Es ist nicht unmöglich, dass kein Mensch in Versuchung gerät, nicht wieder ganz von vorne anzufangen.“ Soll er jetzt oder nicht? Viel Spaß beim Zählen der Negationen! Die kognitiven Blindheit zeigt sich aber noch besser bei der Sphäre des Visuellen, sicher einen prominenteren unserer Sinne. „Ein Karte hat keinen Konjunktiv.“ So fordert Georg Glasze als kritischer Kartograph ein differenzierteres Verständnis für diese Ausdrucksform ein. Grenzen und Namen auf einer Karte besetzen Raum, bilden ein Leitbild (dienen als Referenz für andere, in der Lerngeschichte folgende Beschreibungen dieses Raums) und sanktionieren somit fast unmittelbar jede „unnatürliche“ Veränderung der anfangs beschriebenen Grenzen. Ganz ähnlich hat Bausubstanz keinen Konjunktiv. Abseits von Reduktionismen („Siehst Du ja schon von außen, wer da nur wohnen kann.“) macht ein konkretes Bauwerk das sich Vorstellen einer andersartigen Besetzung dieser Raumstelle schwierig. Es bedarf des geschulten oder visionären Auges von Geographen, Denkmalkundlern und Architekten, um solche Blicke zu realisieren und zu zeigen.

Halten wir fest: Einmal Verschwundenes dringt nur schwer ins Bewusstsein, sowohl ein Ungedachtes als auch ein nicht Seiendes fallen weder im Denken noch in der Wahrnehmung unmittelbar auf. Einzige Ausnahme ist hier sicher der Verlust einer begrifflichen Referenz, wie ich sie oben dargestellt habe. Ein solcher Verlust des scheinbar natürlichen Referenzrahmens, sei es einer geliebten Person, der Heimat oder auch nur eines Gebäudes, das mit Erinnerungen überladen scheinbar schon immer da war, sind im Gegenteil sehr dauerhaft. Ein solcher Phantomschmerz lässt sich mit dem Auseinanderfallen eines kognitiven Modells und des aktuellen Zustands der Umwelt erklären – solche Brüche in der Wahrnehmungskontinuität hat sicher jeder schon einmal erlebt.
Es ist inhärenter Bestandteil menschlichen Erfolgreich-Seins, dass selbst diese Erfahrung ignoriert werden kann – nicht im Rahmen eines Individuums, aber in Bezug auf menschliche Gesellschaft als solches. Es scheint seinen Grund zu haben, warum eine rasche Folge von Generationen sich im Rahmen der Evolution als erfolgreicher erwiesen hat, als einige wenige Individuen mit großer Lebensspanne. Die Sphäre organischen Lebens wie wir es kennen, bringt durchaus auch größere Lebensformen hervor, die mehrere Jahrhunderte überdauern können. Ob es der Geist des Wegschauens, der immer neu seligen Unwissenheit, der Unbekümmertheit und des Wagemuts ist, der Menschen so erfolgreich gemacht hat? Eine Generation wird zum Träger von Entwicklung, verbraucht sich, indem ihr kognitives Modell immer weiter mit der Wirklichkeit auseinanderfällt („Altersstarrsinn“) und tritt beiseite. Eine neue Generation übernimmt, ruft neue Leitideen aus, schiebt alte Begriffe beiseite und gestaltet auch die Materialität des Seins um. Schleichend, fast unmerklich, hin und wieder begleitet von einer handfesten Revolution, wird eine scheinbar kontinuierliche Geschichte des Wachstums geschrieben, in dem an bestimmten Leitaspekten, die gerade in voller Blüte stehen (z.B. Technologie, Kapitalismus schon eher nicht mehr...) ihre erfolgreiche Entwicklung aufgezeigt. Logisch, was durch diese Erfolgsgeschichte verdrängt wurde, fällt ja nicht mehr auf.

Ein abschließender Blick auf die Sphäre des Ökonomischen: Wachstum ist also sichtspezifisch: „Unser Unternehmen wächst“ (und andere verlieren). „Ich lerne gerade unheimlich viel“ (und andere vergessen – vielleicht für immer). „Die großen Entdeckungsfahrten eröffneten ein neues Zeitalter“ (und beendeten in vielen Teilen der Welt eine Unzahl an Existenzen). Systemisch gedacht sollte es reichen, einen Zustand auf hohem Niveau stabil halten zu wollen. Die Sucht nach dem Aufbruch, nach der neuen, ungeahnten Chance, in ihrer unbedenklichen Form auch Neugier genannt lässt auf jeder Ebene ein Unzufrieden-Sein mit dem Erreichten eintreten. Wie weit kann ich es noch treiben? Es schlicht auszuprobieren, macht den Verlust unausweichlich – entweder für mich oder für diejenigen, die in meinem Erfolgsfall Ressourcen an mich abgeben müssen. Wenn aber nicht nur die Enttäuschung einer vagen Wachstumsaussicht Anleger in Aufruhr versetzt, sondern vielmehr Wetten auf die Erfüllung oder Nicht-Erfüllung einer antizipierten Entwicklung zum Gegenstand materieller Aushandlungsprozesse werden (Fällt der Euro? Steigt er?), ist dieser Prozess von allen Lebensgrundlagen völlig abgekoppelt und bedroht durch die unheimliche Masse an verwandten Ressourcen die Lebenswirklichkeit eines jeden. Nicht nur mir als selbsternanntem Bewahrer stellt sich hier die Frage, ob wir wirklich noch spielen, oder ob wir schon leichtfertig vertändeln – vielleicht schaffen wir aber auch gerade nur Raum für eine neue Leitidee, die in ein paar Jahrhunderten ihre Erfolgsgeschichte erzählen kann.