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Sonntag, 8. Juli 2012

„Wenn Religiosität ausstirbt, bleiben nur Geisteswissenschaften, um dem Menschen Orientierung zu geben.“


So oder so ähnlich war die These meiner Frau, die mich nachdenklich gemacht hat. Stirbt Religion wirklich aus? Können Geisteswissenschaften wirklich diese Lücke ausfüllen? Inwieweit das so ist, will ich mit dem heutigen Blog ein bisschen eingehender untersuchen (nicht, dass ich nicht schon ein paar Wochen darüber nachgegrübelt hätte). Ich bin mir sicher, dass sich auch genügend Argumente finden lassen, die dagegen sprechen. Ich bin lediglich neugierig, wie weit sich diese Argumentationslinie treiben lässt, wenn man die Prämisse, dass Religiosität ausstirbt zunächst als gegeben annimmt.
Ein paar Beispiele vorneweg: für mich ist die Militarisierung der Fußballstadien mit Pyrotechnik, Schlägereien und Spielunterbrechungen, die in der letzten Saison zu beobachten war, ein genauso beredtes Symptom dafür wie Komasaufen oder Psychopharmaka. Das Greifen nach dem scheinbar goldenen Ausweg aus dem alltäglichen Nichts und die anschließende Verzweiflung, wenn das die Probleme nicht löst (wie auch?) stehen für mich deutlich für die hilflose Suche nach Sinn in unserer ach so säkularen Gesellschaft. Wohl dem, der wie die Macher der Kampagne „Glücklich leben ohne Gott“ offensichtlich solide in humanistischem Gedankengut gegründet ist. Sollte das pikanterweise eine Form von Glaube sein?

Warum scheidet Naturwissenschaft aus, wenn es um Orientierung geht?

Weil Naturwissenschaft per se die maximale Entfremdung von unserer Alltagserfahrung darstellt und nur deshalb in der Lage ist, Wahrheiten zu entdecken, die uns sonst verborgen blieben. Eine auf dieser Weise entdeckte (konstruierte?) Wahrheit kann freilich immer nur einen Aspekt unseres Menschseins (nämlich den rational-logische) ansprechen.
Mein Lieblingsbeispiel ist immer die Schachnovelle – und ich glaube es gibt genug Programmierer und Softwareentwickler, die auf eine ähnlich manische Weise von der scheinbar mühelosen Beherrschbarkeit und Beherrschung aller Probleme durch ihr (mehr oder minder) konstruktiven Tuns gefesselt sind, dass sie sich des dadurch entstandenen Mangels in ihrem seelischen Gleichgewicht erst viel zu spät bewusst werden. Dies ist ein Standpunkt und keine empirische Studie – dennoch habe ich schon mehrmals diese oder ähnliche Erzähllinien gehört: gut bezahlter Softwareentwickler, 60-Stunden-Woche, mit 40 Sinnkrise, jetzt Gärtner oder im Kloster, scheut den Computer wie der Teufel das Weihwasser. Sicher, μηδὲν ἄγαν, aber gerade dieses Argument nach dem Herstellen eines Gleichgewichts verweist in seiner Bezogenheit auf ein Anderes auf eine Erklärungslücke rein naturwissenschaftlichen Vorgehens.
Apropos Erklärungslücke: Naturwissenschaft erklärt nichts. Die Aussage, dass ein bestimmter Vulkan mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten Zeitintervall eine Eruption einer bestimmten Stärke haben wird (selbst wenn es sich exakt vorhersagen ließe) muss völlig unabhängig von jeglichem Handlungskontext gedacht werden, um wertungsfrei erforscht werden zu können. Erst wenn dort Menschen leben, erhält eine solche Aussage Relevanz für Entscheidungen, die zu treffen sind. Die Aussage „Dort leben Menschen, die das noch nicht wissen – wir müssen sie unbedingt über die Risiken aufklären!“, der sie die gottlos Glücklichen sicher ad hoc anschließen würden, ist nicht mehr Teil naturwissenschaftlichen Arbeitens.

Was ist das eigentlich, wenn wir nach Orientierung suchen?

Die Natur einer nicht endgültig beantwortbaren Frage scheint schwer, es gibt jedoch einige Grundzüge, die leicht sichtbar zu machen sind. Zunächst die Ortsmetapher: „Wo gehöre ich hin?“ Die Suche nach dem Platz im Leben repräsentiert die räumliche Strategie, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Wann habe ich ihn gefunden? „Ubi bene, ibi patria!“ Aha, also eigentlich die Suche nach einem Sozialraum. Dazu gesellt sich die performative Metapher „Was soll ich (in dieser Lage) tun?“ Antworten darauf füllen ganze Handbücher – von der Στοά bist hin zur Esotherik. Zugrunde liegt die Suche nach Routinen, die den eigenen Vollzug von Dasein strukturieren und zeitlich rhythmisieren und dadurch Leben einfacher machen. Das bestechende an Adam Smith's Entwurf eines Wertesystems, das nur auf einem spontanen, empathiegeleiteten Urteils beruht, ist allerdings, dass er durch sein Modell eine fast algorithmische Lösung für die soziale Konstruiertheit von Orientierung anbietet. Noch radikaler wäre es, davon auszugehen, dass jeder Kommunikationsakt Dasein verankert und Halt bietet. Ich nenne es gerne die Teppich-Metapher (nachdem ich mich ja zuletzt kritisch gegen „Soziale Netzwerke“ geäußert hatte): Kettfäden sind die familiären Bezüge, in die unser eigenes Sein eingebunden ist, Schussfäden alle Freundschaften, mit denen wir gemeinsam durch die Zeit reisen. Jede Verbindung zu einem anderen Menschen liefert in gewisser Weise Halt, sei es ein gutes Wort, eine gemeinsame Unternehmung oder auch nur ein Lächeln. Jeder Kommunikationsakt festigt ein unsichtbares Band zwischen zwei Menschen oder lockert es – das erstaunliche daran ist aber wohl doch, dass das Gewebe (oder von mir aus auch Netz) für die meisten Individuen immer tragfähig bleibt oder zumindest Optionen zum Festhalten bietet.

Kann Geisteswissenschaft das alles liefern?

Sicher nicht. Ein paar Aspekte bekommt man aber sicher zusammen. Sprachenwissenschaft kann uns helfen, schon einmal Gedachtes wieder nutzbar zu machen oder überhaupt unseren sprachlichen Erkenntnisrahmen auszuloten. Geographie und Geschichtswissenschaften können helfen zu verstehen, nach welch einfachen und doch gerade dadurch unserem gedanklichen Zugriff entzogenen Konstruktionsprinzipien wir uns räumliche und zeitliche Narrative gestalten, die wir für wahr halten und an denen wir uns orientieren. „Dort ist es halt so!“ vs. „Weil das damals war, ist es heute so!“
Wirklich Orientierung geben kann sicher die Philosophie, der ich ein Verstehen-Wollen von Mensch-Sein und sich dieser Suche emotional verbunden fühlen zuschreibe. Wohl dem, der am Ende seiner Überlegungen zu dem Schluss kommt: „Dies habe ich durch Philosophie gelernt, dass ich tue ohne befohlen zu werden, was andere nur aus Furcht vor dem Gesetz tun!“ Nicht umsonst ist christliche Mythologie voller Verweise auf die antike Philosophie und selbst in der Abgrenzung von ihr bestimmt. Fakt ist aber auch: In allen Gesellschaften war eine solche erleuchtende Selbsterkenntnis ein Narrativ der Eliten – von Platon über den Humanismus und Utilitarismus bis hin zum Kommunismus – und ist letztlich gescheitert, weil ein solches Maß an Selbstbeherrschung kaum einige wenige Menschen aufbringen können, um ohne Fehler stets nach solch hehren Maximen handeln zu können. Wie heißt es in der Στοά? Es ist egal, ob wir hundert oder einen Meter unter der Wasseroberfläche ertrinken. Orientierung beinhaltet also auch Handlungsvorlagen, Gesetze, die helfen, wenn ein erkennender Ratschluss gerade nicht greift.

Jenseits von Wissenschaft

Ich behaupte: auch Geisteswissenschaft ist nur ein Teil von Mensch-Sein. Wirklich helfen kann sie dem Menschen nur, wenn er sich gestaltend darauf einlässt: Literatur und Kunst können helfen, den Alltag nicht ganz so furchtbar ernst zu nehmen oder gerade im Gegenteil durch Eleos und Phobos zumindest kurzzeitig unseren gewohnten Trott aufzubrechen, ein gesundes Maß an Verrücktheit in unser Leben zu bringen, das uns hilft, das Gewohnte zu ertragen. Das setzt aber voraus, dass derjenige überhaupt lesen, ins Theater oder die Ausstellung gehen will. Die alltägliche Praxis, das große Spiel, die „Geschichten, die das Leben schreibt“, die scheinbar alltäglichen Gespräche im Teppich des Lebens bieten aber sicher auch für den kleinen Mann einen Bezugspunkt, mithilfe dessen er sich täglich neu hinterfragen und auf den er sein Handeln gründen kann.
Als Fazit bleibt mir nur der Versuch, Shakespeare mit der orientierungsgebenden Macht der Narrative zusammenzuführen: Was bleibt an Erkenntnis, wenn ein jeder von uns erfüllt vom Verlangen nach Orientierung zusammen mit anderen, die ihn halten und inspirieren, zu unbekannten Zielen unterwegs ist? „Die ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab. Sein Leben lang spielt einer manche Rollen!“

5 Kommentare:

  1. Und wer nicht ins Theater geht der schaut halt Fernsehen auf unterstem Niveau Barbara Salesh, Augmented Reality und co ;-)

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  2. Hm, interessant, was für verschiedene Grundvoraussetzungen für Orientierung würd das implizieren:
    - Nicht flegmatisch-resignativ (d.h. aktionsbereit)
    - Nicht unmotiviert-apathisch (d.h. neugierig)
    - Nicht bildungsfern-lernfaul (d.h. lernbereit)
    Sehr gut! Dann wäre es nicht Geisteswissenschaft, sondern Bildung, die Orientierung böte! Das gefällt mir.

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    1. ...Dann wäre es nicht Geisteswissenschaft, sondern Bildung, die Orientierung böte!
      Das gefällt mir auch wesentlich besser als einige radikale Thesen im Text darüber.

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  3. Das wegfallen der Religiosität ist zwar der
    erste alarmierende Schritt, jedoch ist meiner
    Ansicht nach das, was da unweigerlich darauf
    folgt, viel katastrophaler für unseren Kontinent:
    Der Untergang der Institutionen der christlichen
    Kirchen.
    Heutzutage glaubt sich doch eh' schon jeder sein
    eigenes Süppchen zurecht.
    Die Moralischen und seelsorgerischen Instanzen der
    Kirchen, die seit Jahrtausenden das Zusammenleben
    in unserer Kultur gestützt haben, bergen (noch) das
    wichtigste Potential an gemeinsamen Werten und
    Normen, die unsere Gesellschaft im innersten
    zusammenhalten.
    Wenn diese Jedis, deren Wort einem
    Lichtschwert gleicht, entgültig verschwunden sind,
    wird es finster im Imperium, befürchte ich.
    Es gibt eine Menge von Berufen, die sich
    das Religiöse Erbe teilen werden:
    Lehrer, Anwälte, Juristen,
    Ärzte, Psychologen, Naturheiler, Techniker
    Banker und nicht zu vergessen, die Fanatiker und
    Fundamentalisten anderer Religionen und Sekten
    Da sind die Geisteswissenschaftler nur ein Teil
    davon. Ich würde da auf eine starke Erweiterung
    des eigenen Suppentellerhorizonts plädieren.
    Fest steht für mich:
    So ganzheitlich wie die Geistlichen unserer Tage
    wird die Seelsorge aber niemand mehr tun.
    Hoffnung ist das letzte was sirbt.
    Das vorletzte sollte die Kirchensteuer sein.

    Andererseits gab es diese Moralische Endzeit-
    stimmung schon immer:

    "Die Jugend liebt heutzutage den Luxus.
    Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität,
    hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt,
    wo sie arbeiten sollte.
    Die jungen Leute stehen nicht mehr auf,
    wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern,
    schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch
    die Süßspeisen, legen die Beine übereinander
    und tyrannisieren ihre Lehrer."
    meinte schon Sokrates 449 - 399 v. Chr.

    Auch ein Babylonischer Kulturkritiker, ca. 1000 v. Chr.
    stellte bekanntlich schon fest:
    "Diese heutige Jugend ist von Grund auf verdorben,
    sie ist böse, gottlos und faul.
    Sie wird nie mehr so werden wie die Jugend vorher,
    und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten."

    Auch die Reste einer humanistischen Bildung eignen sich
    immer noch dazu, eine Menge Optimismus zu verbreiten.
    Auch das wollte ich hier noch hinzufügen.

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  4. Schöne Beispiele antiker Kulturen ;)
    Schön, wenn meine Gedanken weitere anregen!

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