(Achtung, dieser Artikel beginnt mit Evidenzen, nicht mit Axiomen! Ansatz: Wir wollen ja nicht bei Adam und Eva anfangen, sondern die Punkte festhalten, die bereits unstrittig sind, um direkt zum Bereich interessanter Diskussionen vorzustoßen zu können. Wahrscheinlich sozialwissenschaftliches Denken…)
Klar dürfte sein: die spannendste Art, Wissenschaft zu betreiben, dürfte nicht im Anwenden einer erlernten Methode (gleich wie elaboriert sie sein mag), sondern im interdisziplinären Überbrücken von Gegensätzen liegen. Ab hier hören die Klarheiten auf; allein die Art des zu überbrückenden Gegensatzes variiert je nach Auge des Betrachters.
- Natur- vs. Geisteswissenschaft
- Erklären vs. Verstehen
- Kalkül vs. Zustimmungswürdigkeit
- Strukturwissen vs. Handlungswissen
- Form vs. Inhalt
- Quantitativ vs. qualitativ
- uvm, das ich schon gehört habe.
Nicht nur, dass hier jede Form von Abstufung miteinander kombiniert wird, auch die verwendeten Begriffe selbst scheinen mitunter gar nicht so gut als Ausgangspunkt geeignet, da sie in vielen Fällen mit subjektiven Erfahrungen belegt sind.
Hangeln wir uns mal schablonenhaft durch, so wie ich das in den letzten Jahren mit meinen Studenten gemacht habe: Naturwissenschaften scheinen ihrem Proprium nach am klarsten definiert zu sein, zumindest was den Konsens der ihnen folgenden Gruppe angeht. Wesentliches Kriterium ist das Ableiten von klar parametrisierten Regeln aus Beobachtungen (induktiv), die von jedermann überprüft werden können (objektiv/nachvollziehbar) und die bei unbekannten Ausprägungen des beschriebenen Bereichs Ergebnisse liefern, die zu den neuen Beobachtungen passen (generalisierend). Größter Lieferant für neue Beobachtungen scheint hierbei die Zukunft, wodurch die Prognosefähigkeit der extrahierten Regeln eine große Rolle spielt. In der Wissenschaftstheorie im Rahmen der Geographie lehren wir das als logischen Empirismus.
„Geisteswissenschaft“. Hier ist es qua Sammelbezeichnung schon schwierig, alles über einen Kamm zu scheren. Genauso wie bei „Unkraut“ handelt es sich hier primär um eine Setzung des Gegenteils („Alles, was nicht Naturwissenschaft ist.“) Schwierig. In der Wissenschaftstheorie haben wir hier zum einen den kritischen Rationalismus: Der Wissenschaftler formuliert aus seinem Alltagsverständnis Regeln oder Theorien („Könnte so sein.“/deduktiv) und ersinnt geeignete Tests (objektiv/nachvollziehbar), deren Ergebnis zeigt, ob das definitiv falsch ist (falsifizierend). Dann muss die Theorie modifiziert werden, ansonsten darf sie (vorerst) in Kraft bleiben. Das ist für den Naturwissenschaftler wohl unproblematisch. Interessanter als Gegensatz wird es beim qualitativ-hermeneutischen Arbeiten. Durch die intensive Beschäftigung mit einigen wenigen Probleminstanzen wird das ganze Spektrum an möglichen(!) Zusammenhängen aufgedeckt (nicht-generalisierend). Ziel ist es vor allem, das Problem verstehen und begrifflich fassen zu lernen, so wie es sich in der (sozialen) Welt darstellt und zwar noch ohne Lösungen zu finden. Ziel ist es, die eigene Meinung so weit herauszuhalten, dass ein anderer Forscher die Ergebnisse bestätigen kann (intersubjektiv zustimmungswürdig). Durch das tiefe Problemverständnis sind solche Forscher zwar noch nicht in der Lage, Prognosen zu geben, wohl aber (politische) Handlungsempfehlungen der Form: „Wenn ihr wollt, dass das eher so sein sollte, könnt ihr da und da ansetzen.“ Unzweifelhaft ist es verführerisch stattdessen „Weil dies unzweifelhaft so und so IST, sollten WIR alle so und so handeln“ zu sagen, wie es in dieser Wissenschaft (ja, ich halte daran fest) leider üblich ist.
Für eine gegenseitige Befruchtung gibt es nun verschiedene Vorschläge, zu denen ich mir viele Standpunkte hier als eigenen Blog erhoffe:
- Sein vs. Sollen; Funktion vs. Bedeutung (Klaus)
- Formale (Mathematik) vs. inhaltsbezogene Geisteswissenschaften (Dietmar)
Stattdessen stelle ich meine bisherigen Einsichten vor: Die Stärke von naturwissenschaftlichem Denken ist zweifelsohne ihre Verlässlichkeit im Sinne von Reproduzierbarkeit. „Wenn A gilt und aus A in diesem System B in 80% der Fälle folgt, dann sollten wir nachschauen, ob B in so einem Anteil auftritt.“ Die Stärke von geisteswissenschaftlichem Denken ist zweifelsohne das Entdecken von Problemdimensionen „Ist euch eigentlich auch schon aufgefallen, dass Räume gerade in politischen Texten, aber auch in der Alltagssprache immer als klar abgrenzbarer, homogener Container gedacht werden? Offensichtlich handelt es sich dabei um eine kognitive Strategie zur Reduktion von Komplexität!“ Unmittelbar einsichtig ist es also nicht, warum der erste vom menschlichen Handeln unter Unsicherheit, der zweite vom Befolgen bestimmter formaler Regeln profitieren sollte.
Eine erste Näherung wäre sicher: Naturwissenschaften müssen problembewusster werden, insofern es in ihrem Kontext für die Beurteilung der Handlungsrelevanz keine Kriterien geben kann, die Ergebnisse aber in der Öffentlichkeit meinungsbildend verhandelt werden. Ein Blick durch die hermeneutische Brille in Form eines Screenings vor einem Projekt ist sicher billig und hilfreich. Geisteswissenschaftler müssen mündiger werden, was ihre alltägliche Produktion von Wissen angeht. Gerade weil sie Experten für die Strukturen alltäglichen Handelns sind, haben sie es nicht so leicht wie der Naturwissenschaftler, ihren Standpunkt vom intersubjektiv zustimmungswürdigen zu trennen.
Wie gesagt, eine erste Näherung. Ich freue mich auf eine rege Diskussion, die weitere Problemaspekte freilegt, die andere Empfehlungen (z.B. „mehr Mathematik in Geisteswissenschaften“) zustimmungswürdig machen.
DJK
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