Zumindest kurz will ich mich heute einem Thema widmen, das mich schon länger beschäftigt. Nachdem ich zuletzt
Wachstum als Veränderung unter selektivem Vergessen enttarnt habe, richtet sich der Gedanke naturgemäß auf Veränderung. Wie vollzieht sich Veränderung im Alltag? Wie nehmen wir sie war? Wie wünschen wir sie uns? Wie immer können hier natürlich nur einige Aspekte angerissen, werden ohne einen Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben.
Da mir Wissenschaft trotz allem schon zur Gewohnheit geworden ist, will ich zunächst sammeln, was ich über Veränderung weiß. Da wäre zunächst das allwissende "panta rhei" der Vorsokratiker, die Physik des Aristoteles, in der Bewegung eine Form von Veränderung ist. Bereits hier findet sich eine Art einfacher Lebenszyklus vom Werden über eine aspektuelle Veränderung hin zum Vergehen (nehmen wir die Kategorienschrift hinzu, also vom ersten Zutreffen eines protoypisch gedachten Klimaxbegriffs an einem Gegenstand bis zu seinem letzten). Halten wir auch fest, dass es ohne ein Ablaufen von Zeit keine Veränderung geben kann und dass es, nehmen wir Augustinus hinzu ("In dir, mein Geist, messe ich die Zeit") ohne Erinnerung keine Beobachtung von Veränderung geben kann. Vermissen (Das Fehlen eines Vergangenen) und Sehnen (das Fehlen eines als zukünftig Antizipierten) werden als menschliche Grundstrebungen erst dadurch aufgespannt und dadurch die Suche nach dem Augenblick, nach dem Teilhaben an dem exakt erstrebten Maß an Veränderung (bis hin zum Flow oder der perfekten Welle, bei der die eigene Veränderung mit der Veränderung der Umwelt im Einklang steht). Und weil der Mensch Werkzeuge bedienen kann, ergeben sich zwei Möglichkeiten der Transformation, um Einklang zu erreichen. Entweder muss die Umwelt angepasst werden - durch Ortsbewegung, Veränderung des sozialen Umfelds oder des Arbeitsplatzes - das ist aber meist teuer (nicht notwendig monetär, aber zumindest (zeit-)aufwändig). Einfacher scheint die im Wortsinn patiente Lösung: Das richtige Mittel verändert meinen Körper, wenn nicht mich so, dass ich in meiner Umwelt aufgehe. Alkohol holt mich in den (nicht-erinnerten?) Augenblick, Kaffe macht mich konzentriert und munter, die Zigarette schafft als Routine des Alltags Sicherheit, Musik im Ohr schafft ein Ensemble aus Herzschlag und Gesang, das notwendige Wege überbrückt und die Schlaftablette lässt mich zur gewünschten Zeit einschlafen. Ich entferne mich langsam vom Kernthema, nur noch so viel: Es ist fraglich, wie viel davon tatsächlicher Mangel an Augenblick ist, der evtl. gar nicht durch das Werkzeug, sondern durch die Suggestion seiner Wirkung erreicht wird und wie viel davon ein allzu exakt getakteter Alltag ist - wie heißt das afrikanische Sprichwort? Ihr habt die Uhren, wir haben (die) Zeit.
Zurück zum Vorverständnis: zuletzt habe ich einiges über die kognitiven Grundlagen von Veränderung gelernt - eher beiläufig im Gespräch auf einer Fachtagung. Ich habe gelernt, dass die Gegenwart ca. 3 Sekunden dauert - das ist die Zeit, die das sensorische Echo unserer Sinne in unserem Geist (so übersetze ich als Humanist dem funktional-materiellen Kontext zum Trotz noch immer am liebsten den Gegenstand der philosophy of mind - den Unterschied zwischen Leib/Seele und body/mind als Sprachwandel in einem kulturgeschichtlichen Kontext zu untersuchen ist sicher irgendwo erforscht) nachhallt und zu einem Augenblick zusammerückt. Das Echo ist es wohl, das Aristoteles zu der zutreffenden Beobachtung kommen ließ, eine Bewegung und eine Veränderung ließen sich nur an Referenzgegenständen festmachen, z.B. indem die Sonne oder ein Ball im Flug die qualitative räumliche Konfiguration mit der Landschaft ändert (links vom Baum, über dem Baum, rechts vom Baum). Notfalls müssen wir solche Referenzen eben selbst schaffen, was mit einem Bleistiftstrich des Schattenwurfs oder einem Beweisfoto heute ja rasch geht. Ich habe zudem gelernt, und das führt uns zum spannenden Teil der Bewertung von Veränderung, dass dem durch die kognitven Notwendigkeit von Begriffen ("etwas an etwas (gedanklich") festhalten") bedingten Beharren eines kognitven Modells die simple Gewöhnung entgegenwirkt. Erst scheint uns das Neue sonderbar (absondernswert), dann bemerkenswert und schließlich sogar vertraut (verwendenswert). Mir wurde von Beispielen in der Mode berichtet, nach denen bestimmte Formen, die zunächst als abstoßend und hässlich empfunden wurden, bei kontinuierlicher Wiedervorlage immer milder und schließlich positiv beurteilt wurden. Spannend auch, dass das Vertraute schnell ins Gewöhnliche abgleitet und abgelegt wird, wenn einer positiven Irritation die nächste Vertrautheit folgt. Ganz ähnlich zu den Lebenszyklusmodellen in der Standorttheorie, nach denen nur ein unverbrauchter Ort leicht Träger einer neuen Funktion werden kann ist es wiederum teuer im Sinne von aufwändig, den Träger einer Vertrautheit (seien es Produkte wie ein Auto oder ein PC oder auch persönliche Beziehungen) durch das Setzen von neuen Irritationen immer wieder in den Raum des Bemerkenswerten zurückzuholen. Nur als Anekdote: In Zentraleuropa ist es viel wichtiger, dass ein Nachfolgemodell eines Autos Familienähnlichkeiten mit seinem Vorgänger aufweist als z.B. in Japan.
Es hängt also (wie immer) von einer bestimmten Sozialisierung und der konkreten Person ab, welcher Grad an Veränderung (anregende Irritation) und welcher Grad an Vertrautheit (wohltuende Kongruenz) nötig ist, um durch Interferenz verschiedener Lebenszykluswellen die eigene perfekte Welle aufzuspannen, in der die Kongruenz des eigenen Daseins in dichtender Kunst und Gesang auf so vielfältige Weise formuliert wird. Als Informatiker bin ich versucht, diese Eigenschaft einer Person als erwünschte Veränderlichkeit a [0..1] bezüglich eines Lebensbereichs definieren zu wollen (wobei 1-a der Wunsch nach Wiederholung, nach dem gleichbleibenden Verharren wäre). Das Abweichen von der wahrgenommenen Veränderung in den jeweiligen Lebensbereichen bestimmt dann z.B. über Chi-Quadrat oder schlicht das Residuum das Aufgehen oder aben Nicht-Aufgehen, das Ankommen im Augenblick oder das Fremdbleiben.
Ein philosophischer Aufsatz, den ich einst im Grundstudium gelesen habe, stellte die These auf, die Wahrnehmung (Illusion?) von Ewigkeit liege nicht in der Zeitlosigkeit, sondern in der erlebten Transzendenz des Augenblicks, wenn wir uns ein Musikstück oder Film im innersten berührt, wenn in einem Gespräch mit einer geliebten Person die Welt um uns versinkt und eine Oase der Geborgenheit schafft. Wäre mein Modell der Veränderlichkeit, der Distanz zur Welt vor diesem Hintergrund ein einfaches Modell des Glücks?