Der Tod eines Menschen, der einem sehr nahe gestanden hat, sei es als Vorbild oder als Unterstützer oder beides, bringt immer viel Nachdenken mit sich; Nachdenken auch über das eigene Leben und die Frage nach dem Sinn des Sich-Mühens. Es ist beruhigend, zu wissen, dass es anderen Menschen auch so geht und vielleicht kann ich, da ich mich nach dem Tod meiner Oma nun in einer solchen Situation befinde, das ein oder andere Wort finden, mich selbst und andere zu trösten, zumal ich ja erst unlängst die Antworten auf die Frage, was Menschen am Lebensende am meisten bereuen, philisophisch kommentiert habe. (http://xdjkx.blogspot.de/2012/02/sein-oder-nicht-sein.html)
Betrachten wir Leben synchron, als ein Sein-Zum-Ende im Sinne Heideggers, bei dem Leben eine stete Folge eines Setzen von "noch nicht vorbei"-Zeitpunkten ist, zeichnet sich dieses Ins-Nicht-Sein Gehalten-Sein doch vor allem durch zwei Dinge aus, die sich mir aufdrängen. Das eine Extrem ist wohl das, was Giddens "structure provides binding" nennt; die Tatsache, dass nur Routinen im Alltag uns die Sicherheit und das Vertrauen zu geben vermögen, uns überhaupt ans Leben zu wagen: angefangen von so simplen biologischen Rhythmen wie Herzschlag und Atmung (nicht umsonst gibt es ganze Wellness-Programme dazu) über aktionsräumliche Routinen besonderer Orte (wo wohne ich? wo arbeite ich? wo kann ich entspannen?) bis hin zum Immer-Wieder-Anknüpfen an die Kommunikation mit unseren sozialen Bezugspersonen in Familie, Freunden und Bekannten.
Das zweite Extrem ist sicher die Irritation. Damit meine ich zunächst neutral einen Einfluss von außen, der in der Lage ist, unsere alltäglichen Rhythmen, quasi den Herzschlag unseres Daseins, zu beeinflussen und zu verändern. Irritationen sind dabei ambivalent. Es gibt positive Irritationen auf allen Ebenen: Sport belebt den Kreislauf, ein neues Theater oder ein neues Restaurant auszuprobieren schafft ein neues Ambiente, ein Urlaub neue Eindrücke und neue Bekanntschaften bereichern die soziale Lebenswelt. Natürlich geht das auch umgekehrt. Der Alltagsstress im Job schafft Bluthochdruck, das Benehmen in einem fremden Land kann unbewusst verstören und die Erwartungshaltung unseres Umfelds uns einengen.
Beide Daseinskonzepte können Angst machen - die Angst vor Stillstand treibt uns an, die Angst vor Veränderung hält uns zurück.
Diachron betrachtet, was ein lineares Zeitkonzept impliziert, unterliegen wir in unterschiedlichen Lebensphasen völlig unterschiedlichen Anforderungen. Als Kinder müssen wir zunächst in der Welt ankommen, was Kindern im wahrsten Sinn des Wortes so spielerisch gelingt, dass man bereits als junger Erwachsener nur staunen kann, wie leicht dies fällt. Das überbordende Leben eines Kindes kennt keinen Zweifel und kein Ziel außer dem ungebremsten Wachstum. Als Jungendlicher wird das Dasein völlig neu ausgerichtet. Die hohe Plastizität der kindlichen Anpassung weicht Denkmustern, die sich Stück für Stück aus dem sozialen Kontext schälen, in den ein junger Mensch eingebettet ist. Physiologisch werden nun alle ungenutzten neuronalen Verbindungen gelöscht, um dem Erwachsenen ein entschiedenes Handeln zu ermöglichen. Es ist die Zeit großer Verwirrungen und (scheinbarer?) Epiphanien, in denen uns Wissen über das tatsächliche Wesen der Natur zuzufallen scheint, dabei fällt uns nur die Struktur zu, die wir fortan auf die Welt legen. Einmal abgeschlossen wird der Mensch zum Kulturträger, der für einige Jahrzehnte genau angepasst an seine Lebenswelt denken und entscheiden kann und dieses Wissen an Nachwuchs weitergeben kann - an den eigenen oder denjenigen, für den man als Lehrender oder Vorbild Verantwortung übernommen hat.
Dass der Tod in so einer Welt sinnvoll ist, liegt auf der Hand. Ausgenommen der Jugend, die in ihrer Verwirrung noch neues Leben (er-)proben muss, würde es diesen nicht geben, hätte es sich nicht als sinnvoll für die Menschheit an sich erwiesen, das Wissen und Können rasch an eine neue Generation weiterzugeben, die es für einige Jahrzehnte lernen, hüten, weiterentwickeln und schließlich abgeben müssen. Es liegt auch auf der Hand, dass es sich nicht schön anfühlt, durch die Geburt ins Dasein gerissen zu sein, mit unheimlicher Macht ins Leben zu drängen, heimisch zu werden und die oben beschriebenen Routinen aufzubauen (die basalste ist sicherlich die der eigenen Identität, das Gefühl das Beharren eines "Ichs") und schließlich nur weitergeben und zum Abschied kurz winken zu können.
Selbst, wenn wir das akzeptieren können, stellt sich die Frage danach, warum wir Kulturträger sein sollen, warum wir eine Erde weiter pflegen, bewahren und weiterentwickeln, die vielleicht schon in 50 Jahren von einem Kometen zerstört wird. Wir können es nicht wissen und selbst der rationalste Mensch MUSS etwas glauben - und ich meine damit keinen auferlegten Zwang, sondern eine ureigenste Routine, die wir tief in uns finden können. Wir glauben einfach, dass es sich lohnt, am Abend vor dem Weltuntergang (und wenn es nur unser eigener ist) noch einen Apfelbaum zu pflanzen!
Wenn wir schon als Wissenschaftler unsere Daseinsbedingungen dekonstruieren, können wir dort viel Tröstliches finden: (1) dass Zeit vielleicht nicht wirklich linear ist. Tatsächlich haben wir ja Sein in jedem Augenblick und genau "jetzt" werfen wir ja immer auch ein Netzwerk an Gefühlen, Gedanken und Worten auf die Welt aus, die wir uns vertraut gemacht haben. Mit Augustinus: Wir sind, wir wissen, dass wir sind und wir lieben unser Wissen und unser Sein. Das kann uns niemand nehmen und nur unter Änderung dieser kleinen Prämisse, dass Zeit eigentlich völlig bedeutungslos ist, ändert sich alles. (2) dass die Routine des "Ich" vielleicht auch nur eine Illusion ist. Wir werden es verstehen, wenn es so weit ist. Alle Menschen, die von Nahtoderfahrungen berichten, haben keine Angst mehr vor dem Tod. Er ist für sie so natürlich geworden wie das Geborenwerden, das Gebären. Sie berichten übereinstimmend vom unglaublich überwältigenden Empfinden der Bedeutung der Liebe. Es geht dabei nicht mehr um eine konkrete, gerichtete, weltliche Liebe, sondern die alles tröstende Liebe. Menschliches Leben ist so unglaublich, dass man sogar das Sterben lernen kann, wenn es so weit ist.
Der Titel dieses Eintrags wäre nicht gerechtfertigt, wenn neben tröstlichen Überlegungen nicht auch eine Handlungsempfehlung gegeben würde: Stärker als der Tod ist die Liebe! Selbst wenn unsere Welt als solche und wir als Einzelne im Besonderen verletzlich sind, selbst wenn die Liebe in der Welt ein unglaubliches Experiment Gottes mit offenem Ausgang ist - unsere Gefühle verraten uns zu jedem Zeitpunkt genau, was zu tun ist: Routinen, die Vertrauen schaffen, und im richtigen Moment ein Schuss liebende Verrücktheit. Wenn wir es schaffen, diese Balance zu finden, dann kümmert uns weder die Angst, in Routinen gefangen zu sein, noch die Angst vor allzu großer Veränderung, die wir sicher beide kennen, dann kümmert uns auch nicht die Angst vor der ultimativen Veränderung. Wenn wir alle Menschen, die uns mögen, an unserer Seite wissen, weil wir immer wieder neu an sie anknüpfen im fröhlichen, ernst nehmenden, manchmal auch sorgenvollen Gespräch und in jedem Moment hoffnungsvoll den Aufbruch in eine neue Zeit wagen, dann kann sich unsere Welt wirklich verändern, dann kann Gottes großes Experiment wirklich gelingen - und wer weiß: Vielleicht ist die Welt wirklich so unglaublich, dass wir nach dem Tod sogar neues, zeitloses Leben an einer U-Topie, einem Nicht-Ort völlig neuer Erfahrung kennenlernen können, in dem unser Sein nicht verloren ist, sondern für immer im großen Orchester Gottes seine Stimme gefunden hat.
Es steuert das Schiff des Lebens
und unter uns rauscht die See
wohlbekannt in grundlosen Tiefen
es halten uns die Planken der Liebe
all derer, die mit uns auf dem Weg sind
Es steuert das Schiff des Lebens
wir wissen nicht wohin
und uns überkommt die Lust zu tanzen
auf der Bordwand des Lebens
in Lachen und Glück vereint
in der Gemeinschaft derjeinigen
denen Leben heilig ist
Es steuert das Schiff des Lebens
und wir schlafen trunken von Glück
ob wir tanzen, ob wir fallen
in ewig tröstende lichtlose Tiefen
wir bereuen es nie, geliebt zu haben
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