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Sonntag, 18. März 2012

Die Zwangsläufigkeit von Reduktionismen

Nach dem eher episodischen Post vom Donnerstag will ich mich heute wieder dem tieferen Gedanken zuwenden, der mich seit Wochen umtreibt, nicht nur, aber sicherlich ursächlich als Ergebnis meiner Bemühungen um mein Promotionsprojekt. Ausgangspunkt soll die Frage danach sein, warum es manche Menschen - mitunter sehr emotional - ablehnen, die Welt genauer zu betrachten: "Ich weiß doch genau, warum etwas so und so ist bzw. dass es dort genau so und so ist, warum erzählst du mir etwas anderes? Warum sollte ich etwas suchen, dessen Ergebnis schon feststeht?"

Um deduktiv theoriegeleitet zu argumentieren: ich glaube, es ist die Illusion der Beherrschbarkeit des Alltags durch Routinen, die manche Menschen verzweifelt an den Grenzen ihrer Welt festhalten lässt, als seien sie der einzige Halt in einer sich stetig vervielfäligenden Umwelt. Ganz gleich, ob es der Kaffee am Morgen, die Zigarette zwischendurch, das Bier am Abend oder eine bestimmte Einschlafposition in zeitgeographischer Hinsicht oder "mein" Verein, "meine" Disco oder "mein" Supermarkt in räumlicher Hinsicht sind; die Annahme einer klaren Strukturiertheit der Umwelt gewähren zumindest für einen kurzen Intervall Sicherheit, ein Ankommen und ein Vertrautsein, das Planbarkeit zumindest einer kurzen Spanne der Zukunft verheißt: Ich kenne den Ort oder die Stunde, an dem oder der ich ein bestimmtes Bedürfnis befriedigen oder eine bestimmte Emotion evozieren kann.

Was ich nicht verstehen kann, ist, dass wenn ich die Illusion als solche erkannt habe, und mag es noch so schmerzhaft gewesen sein, nicht danach dränge, sie zu ergründen und ihre Genese zu hinterfragen. Vielleicht fehlt vielen auch schlicht ein Weg zur Erkenntnis?


Tatsache ist: wenn man erst einmal angefangen hat, dass scheinbar Gegebene zu hinterfragen, müssen die Gesetze des Alltags, oftmals selbstgemacht, nicht mehr gebrochen werden, um frei zu sein, es reicht dann eine spielerische Neusgestaltung: Um Metaphern zu bemühen: es wird dann nicht mehr Fußball, sondern Theater gespielt. Es gibt nicht mehr nur noch den Ball und 90 Minuten, sondern eine facettenreiche Rolle, die erprobt werden will. Dies erfordert indes den Mut, eine scheinbar bekannte Welt neu zu ergründen, sie mir täglich neu aneignen, das sich Einlassen auf das Andere.

Sicher auf dem Weg zur Erkenntnis ist auch: Am meisten können wir aus den größten Irritationen lernen. Nie lernen wir mehr als im Gespräch mit anderen Menschen, die unserem Alltag fremd sind und die ihn gerade daher besonders bereichern können.

Das verblüffende an dieser Tatsache ist ihr Rückverweis auf die Reduktionismen vom Anfang: sie finden sich nämlich nicht nur in Raum und Zeit, sondern auch in unserer Sprache. Jedes Wort vereinfacht notwendigerweise die Komplexität der Welt, um sie verhandelbar zu machen. Reduktionismen sind also ein wichtiger Startpunkt, um überhaupt ins Gespräch zu kommen:

"Neulich war ich in Hamburg!" "Ah, hast du die Speicherstadt und den Hafen gesehen? Warst du auf dem Michel? Auf der Reeperbahn in St. Pauli?" "Sicher! Besonders schön war es auch an der Alster!" "Ja, dort ist es toll!" usw. Selbst wenn der kritische Geograph sofort in Rage gerät: "Was ist denn DIE Speicherstadt für dich? St. Pauli ist mehr als nur DIE Reeperbahn!", der erste Schritt der Erkenntnis ist immer das Herstellen von Gemeinschaft in einem einfachen Verstehen. Die wenigsten Menschen werden glauben, damit bereits die ganze Wahrheit gesagt zu haben, aber es ist der erste notwendige Schritt dorthin. Erst auf der Grundlage dieses ersten Begriffsnetzes ist ein Austauschen von individuellen Reisetipps o.ä. zur Gewinnung eines nach und nach differenzierten Bildes möglich.

Natürlich ist das Erleben von Gemeinschaft in der Schilderung oder gar der Emotion teilweise kognitiv bedingt: Schöne Aussichten von einem erhöhten Standpunkt, schönes Wetter und offene Wasserflächen faszinieren sicher fast alle Menschen - beim Image von Stadtteilen oder Regionen wird das Ganze schon schwieriger und häufig polemischer. Hier bedarf es neben des Muts, sich auf das Neue einzulassen der Geduld, bezüglich eines Diskursfragments die vorherrschenden (Re-)produktionsregeln in aller Ruhe zu durchdringen und ernstzunehmen, sie vorurteilsfrei zu lesen, bevor sie verändert werden können.

Halten wir fest: Die Grenzen des Denkens zu verschieben und für einen kurzen Moment wirklich zu wachsen, bedeutet also nicht immer die gnadenlose Revolution, sondern manchmal auch, vorher auf eine bestimmte Erwartungshaltung eingehen zu können, sie bewusst zu bedienen und von diesem Ausgangspunkt aus nacheinander Differenzen anzulegen, die im Dialog helfen können, das erste Urteil zu revidieren: "Die USA, das ist Hollywood, New York, Texas, die Great Plains und die Rocky Mountains. Es ist kaum möglich, ob der Vielzahl der Orte und ihrer Überladung mit Bedeutung von DEM 'Amerikaner' in Deutschland zu sprechen. Schlussendlich gibt es wohl auch dort Menschen, die sich je nach ihrem Charakter in ihrem Bemühen, sich weiter zu entwickeln oder eben nicht kaum von der mir vertrauten Welt unterscheiden."

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