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Sollte der deutsche Websphären-Bewohner nur noch zu Shitstorms und zu keinen tiefer gehenden Gedanken mehr fähig sein?
Ungeachtet der allgemeinen Aporie möchte ich mich hier an einem Standpunkt versuchen:
Fünf unerfüllbare Wünsche an die Vergangenheit hat sie besonders häufig gehört:
Die methodische Frage nach der Gefahr eines qualitativen Erfahrungswertes drängt sich zunächst natürlich für einen Wahrnehmungsforscher auf: Wird das generalisiert, was man selbst sucht? Zustimmungswürdig sind die Aussagen in der Tat alle – und seien wir ehrlich: Das fragen wir uns auch so, nur sind wir nicht täglich ins Nicht-Sein gehalten (und so auf die Essenz des Seins reduziert) wie als Sterbender. Bei einer hohen Zustimmungswürfigkeit muss es ein vermittelndes Element geben, das uns alle verbindet. Zweierlei möchte ich anmerken, ohne die Suche nach der Eudaimonia als solche zu diskutieren. Es darf vermutet werden, dass ein Grund darin liegt, dass wir unsere Zukunft für planbar und beherrschbar halten und dadurch immer „es ist ja noch Zeit“ denken, solange es und körperlich gut geht. Ein anderes sind sicher die gesellschaftlichen Diskurse, die unseren Entfaltungsspielraum mehr einschränken als wir überhaupt glauben.
1. Ich wünschte, ich hätte den Mut aufgebracht, ein Leben getreu mir selbst zu führen – anstatt eines, das andere von mir erwarteten.
Das ist nicht neu und eigentlich schon der Kern der Problematik: Secundum naturam vivere ist einer der zentralen und in seiner Dynamik aktuellsten Leitsprüche der antiken Philosophie. Mein Wesentliches Ich-Sein immer neu zu entfalten. Schwierig dabei: Was meine Natur ist, kann ich nicht wissen. Handeln ist immer Handeln unter Unsicherheit. Ich kann zum einen gar nicht wissen, wie zu handeln jetzt in diesem Moment ganz und gar meinem Ich-Sein entspricht. Handle ich zu schnell, muss ich damit rechnen, meiner „Natur“ im Affekt langfristig und unwiederbringlich widersprochen zu haben. („Ach hätte ich doch damals nur nicht!“). Denke ich zu lange nach, ist der Moment zu handeln selbst, unwiederbringlich verloren („Ach hätte ich damals doch!“). Zusätzlich helfen auch einmal an sich selbst erkannte Prinzipien (z.B. durch Überlegen: „Nach welchen Situationen habe ich mich mit mir selbst im Einklang gefühlt.“) nichts, wenn sich meine Wünsche über die Zeit ändern. Zudem: Rücksicht auf andere zu nehmen ist sicher eine Tugend, keine Barriere auf dem Weg zum Seelenheil. Insofern die volle Entfaltung meiner Natur diejenige der anderen beschränkt, geht es nicht an, mich über sie zu stellen. Anders formuliert: Zu gewinnen, ist im Spiel des Lebens kein Kriterium und ich denke, jeder Sterbende ist sich darüber im Klaren. Spielregeln reduzieren die Komplexität der Ziele auf einen Aspekt: Geld, Macht, Ruhm, Anerkennung. Unsere Natur bildet keiner davon ab. Letztlich wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben, als hier zu lächeln und dort die Ästhetik des Unvollendeten zurückzulassen.
2. Ich wünschte, ich hätte nicht so viel gearbeitet.
Hier kommen wir der Sache näher: Die Ergänzung lautet: Für andere! Ohne jetzt einem naiven Marxismus das Wort reden zu wollen geht es doch wesentlich um die Unterscheidung von Job und Berufung. Arbeite ich nur, um Geld zu verdienen, muss ich die restliche Zeit gut nutzen, um die Dinge zu erledigen, die mir wirklich wichtig sind. Neudeutsch: Life-work-balance. Wohl dem, der einen Beruf ausüben darf und kann, der seiner Berufung am nächsten kommt; er wird es nicht bereuen. Wichtigste Erkenntnis: Zeit ist kostbarer als Geld.
3. Ich wünschte, ich hätte den Mut aufgebracht, meine Gefühle zu zeigen.
Die Frage lautet: wem? Die Unterscheidung: welche Art von Gefühle? Positive Gefühle nicht kundzutun, aus Angst vor Verletzlichkeit, ist eine der Möglichkeiten, Momente zu handeln unwiederbringlich zu verlieren. Negative Gefühle nicht kundzutun, aus Rücksicht oder Angst vor Folgen, wird eine sich wiederholende Ursache nicht beseitigen. Die doppelte Nennung der Angst vor den Konsequenzen der eigenen Gefühle erklärt natürlich auch, warum schlussendlich Mut nötig ist, einen Sprung ins Handeln zu tun. Ich kann nur Erasmus von Rotterdam zirieren:
Die höchste Form des Glücks ist ein Leben mit einem gewissen Grad an Verrücktheit.
4. Ich wünschte, ich wäre mit meinen Freunden in Kontakt geblieben.
Gnothi seauton statt Pflichterfüllung, Zeit statt Geld haben und Verrücktheit wagen. Es ist fast folgerichtig, dass, wenn es nach Adam Smith eine der grundlegendsten Charakteristika menschlichen Daseins ist, am Leben anderer Menschen Anteil zu nehmen, und sei es, das wir keinen anderen Vorteil daraus ziehen als das Vergnügen, Zeuge davon zu sein, das die Kunst, die Gabe, der sich selbst treuen Verrücktheit, des positiven Wandels, des Aufbruchs in eine neue Zeit immer nur auf Gespräche zurückführen sind, die wir mit Menschen führen, die wir uns vertraut gemacht haben, die uns aber fern genug sind, das sie uns immer wieder neu begeistern, anregen und verändern können. Es ist klar, dass dieses höchste aller Geschenke, die lächelnde Verständigung über unser Menschsein und ihre immer wieder neue Auslegung nur im Kreis unserer Freunde gelingen kann.
5. Ich wünschte, ich hätte mich glücklicher sein lassen.
Zurück zum Mut: Vor diesem Hintergrund erfordert es Mut, sich Zeit zu nehmen für Gespräche, die an die Grundfesten unseres Daseins rühren, es erfordert Mut, sich gegen das Smithsche man zu stellen, den niemand, der wir alle sind und er wohl am charmantesten das fasst, was wir heute in den Sozialwissenschaften als Diskurs kennen. Erst wenn wir uns vorstellen, wie wir eine bestimmte Tätigkeit rückblickend bewerten würden, die uns alltäglich aufgetragen ist, können wir eventuell erst den Mut aufbringen, nur das anzunehmen, was wir wirklich tun wollen und uns dafür die Zeit zu nehmen, die nötig ist.Schließen möchte ich indes mit Erich Kästner, ich glaube, das steht in Drei Männer im Schnee:
"Glauben Sie an ein Leben nach dem Tod?"
"Nein!"
"Ach, deswegen haben Sie es so eilig!"
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