So oder so ähnlich war die These meiner Frau, die mich
nachdenklich gemacht hat. Stirbt Religion wirklich aus? Können
Geisteswissenschaften wirklich diese Lücke ausfüllen? Inwieweit das
so ist, will ich mit dem heutigen Blog ein bisschen eingehender
untersuchen (nicht, dass ich nicht schon ein paar Wochen darüber
nachgegrübelt hätte). Ich bin mir sicher, dass sich auch genügend
Argumente finden lassen, die dagegen sprechen. Ich bin lediglich
neugierig, wie weit sich diese Argumentationslinie treiben lässt,
wenn man die Prämisse, dass Religiosität ausstirbt zunächst als
gegeben annimmt.
Ein paar Beispiele vorneweg: für mich
ist die Militarisierung der Fußballstadien mit Pyrotechnik,
Schlägereien und Spielunterbrechungen, die in der letzten Saison zu
beobachten war, ein genauso beredtes Symptom dafür wie Komasaufen
oder Psychopharmaka. Das Greifen nach dem scheinbar goldenen Ausweg
aus dem alltäglichen Nichts und die anschließende Verzweiflung,
wenn das die Probleme nicht löst (wie auch?) stehen für mich
deutlich für die hilflose Suche nach Sinn in unserer ach so
säkularen Gesellschaft. Wohl dem, der wie die Macher der Kampagne
„Glücklich leben ohne Gott“ offensichtlich solide in
humanistischem Gedankengut gegründet ist. Sollte das pikanterweise
eine Form von Glaube sein?
Warum scheidet Naturwissenschaft aus, wenn es um Orientierung geht?
Weil Naturwissenschaft per se die
maximale Entfremdung von unserer Alltagserfahrung darstellt und nur
deshalb in der Lage ist, Wahrheiten zu entdecken, die uns sonst
verborgen blieben. Eine auf dieser Weise entdeckte (konstruierte?)
Wahrheit kann freilich immer nur einen Aspekt unseres Menschseins
(nämlich den rational-logische) ansprechen.
Mein Lieblingsbeispiel ist immer die
Schachnovelle – und ich glaube es gibt genug Programmierer und
Softwareentwickler, die auf eine ähnlich manische Weise von der
scheinbar mühelosen Beherrschbarkeit und Beherrschung aller Probleme
durch ihr (mehr oder minder) konstruktiven Tuns gefesselt sind, dass
sie sich des dadurch entstandenen Mangels in ihrem seelischen
Gleichgewicht erst viel zu spät bewusst werden. Dies ist ein
Standpunkt und keine empirische Studie – dennoch habe ich schon
mehrmals diese oder ähnliche Erzähllinien gehört: gut bezahlter
Softwareentwickler, 60-Stunden-Woche, mit 40 Sinnkrise, jetzt Gärtner
oder im Kloster, scheut den Computer wie der Teufel das Weihwasser.
Sicher, μηδὲν ἄγαν, aber gerade dieses Argument nach dem
Herstellen eines Gleichgewichts verweist in seiner Bezogenheit auf
ein Anderes auf eine Erklärungslücke rein naturwissenschaftlichen
Vorgehens.
Apropos Erklärungslücke:
Naturwissenschaft erklärt nichts. Die Aussage, dass ein bestimmter
Vulkan mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit in einem bestimmten
Zeitintervall eine Eruption einer bestimmten Stärke haben wird
(selbst wenn es sich exakt vorhersagen ließe) muss völlig
unabhängig von jeglichem Handlungskontext gedacht werden, um
wertungsfrei erforscht werden zu können. Erst wenn dort Menschen
leben, erhält eine solche Aussage Relevanz für Entscheidungen, die
zu treffen sind. Die Aussage „Dort leben Menschen, die das noch
nicht wissen – wir müssen sie unbedingt über die Risiken
aufklären!“, der sie die gottlos Glücklichen sicher ad hoc
anschließen würden, ist nicht mehr Teil naturwissenschaftlichen
Arbeitens.
Was ist das eigentlich, wenn wir nach Orientierung suchen?
Die Natur einer nicht endgültig
beantwortbaren Frage scheint schwer, es gibt jedoch einige Grundzüge,
die leicht sichtbar zu machen sind. Zunächst die Ortsmetapher: „Wo
gehöre ich hin?“ Die Suche nach dem Platz im Leben repräsentiert
die räumliche Strategie, eine Antwort auf diese Frage zu finden.
Wann habe ich ihn gefunden? „Ubi bene, ibi patria!“ Aha, also
eigentlich die Suche nach einem Sozialraum. Dazu gesellt sich die
performative Metapher „Was soll ich (in dieser Lage) tun?“
Antworten darauf füllen ganze Handbücher – von der Στοά bist
hin zur Esotherik. Zugrunde liegt die Suche nach Routinen, die den
eigenen Vollzug von Dasein strukturieren und zeitlich rhythmisieren
und dadurch Leben einfacher machen. Das bestechende an Adam Smith's
Entwurf eines Wertesystems, das nur auf einem spontanen,
empathiegeleiteten Urteils beruht, ist allerdings, dass er durch sein
Modell eine fast algorithmische Lösung für die soziale
Konstruiertheit von Orientierung anbietet. Noch radikaler wäre es,
davon auszugehen, dass jeder Kommunikationsakt Dasein verankert und
Halt bietet. Ich nenne es gerne die Teppich-Metapher (nachdem ich
mich ja zuletzt kritisch gegen „Soziale Netzwerke“ geäußert
hatte): Kettfäden sind die familiären Bezüge, in die unser eigenes
Sein eingebunden ist, Schussfäden alle Freundschaften, mit denen wir
gemeinsam durch die Zeit reisen. Jede Verbindung zu einem anderen
Menschen liefert in gewisser Weise Halt, sei es ein gutes Wort, eine
gemeinsame Unternehmung oder auch nur ein Lächeln. Jeder
Kommunikationsakt festigt ein unsichtbares Band zwischen zwei
Menschen oder lockert es – das erstaunliche daran ist aber wohl
doch, dass das Gewebe (oder von mir aus auch Netz) für die meisten
Individuen immer tragfähig bleibt oder zumindest Optionen zum
Festhalten bietet.
Kann Geisteswissenschaft das alles liefern?
Sicher
nicht. Ein paar Aspekte bekommt man aber sicher zusammen.
Sprachenwissenschaft kann uns helfen, schon einmal Gedachtes
wieder nutzbar zu machen oder überhaupt unseren sprachlichen
Erkenntnisrahmen auszuloten. Geographie und Geschichtswissenschaften
können helfen zu verstehen, nach welch einfachen und doch gerade
dadurch unserem gedanklichen Zugriff entzogenen
Konstruktionsprinzipien wir uns räumliche und zeitliche Narrative
gestalten, die wir für wahr halten und an denen wir uns orientieren.
„Dort ist es halt so!“ vs. „Weil das damals war, ist es heute
so!“
Wirklich Orientierung geben kann sicher
die Philosophie, der ich ein Verstehen-Wollen von Mensch-Sein und
sich dieser Suche emotional verbunden fühlen zuschreibe. Wohl dem,
der am Ende seiner Überlegungen zu dem Schluss kommt: „Dies habe
ich durch Philosophie gelernt, dass ich tue ohne befohlen zu werden,
was andere nur aus Furcht vor dem Gesetz tun!“ Nicht umsonst ist
christliche Mythologie voller Verweise auf die antike Philosophie und
selbst in der Abgrenzung von ihr bestimmt. Fakt ist aber auch: In
allen Gesellschaften war eine solche erleuchtende Selbsterkenntnis
ein Narrativ der Eliten – von Platon über den Humanismus und
Utilitarismus bis hin zum Kommunismus – und ist letztlich
gescheitert, weil ein solches Maß an Selbstbeherrschung kaum einige
wenige Menschen aufbringen können, um ohne Fehler stets nach solch
hehren Maximen handeln zu können. Wie heißt es in der Στοά? Es
ist egal, ob wir hundert oder einen Meter unter der Wasseroberfläche
ertrinken. Orientierung beinhaltet also auch Handlungsvorlagen,
Gesetze, die helfen, wenn ein erkennender Ratschluss gerade nicht
greift.
Jenseits von Wissenschaft
Ich behaupte: auch Geisteswissenschaft
ist nur ein Teil von Mensch-Sein. Wirklich helfen kann sie dem
Menschen nur, wenn er sich gestaltend darauf einlässt: Literatur und
Kunst können helfen, den Alltag nicht ganz so furchtbar ernst zu
nehmen oder gerade im Gegenteil durch Eleos und Phobos zumindest
kurzzeitig unseren gewohnten Trott aufzubrechen, ein gesundes Maß an
Verrücktheit in unser Leben zu bringen, das uns hilft, das Gewohnte
zu ertragen. Das setzt aber voraus, dass derjenige überhaupt lesen,
ins Theater oder die Ausstellung gehen will. Die alltägliche Praxis,
das große Spiel, die „Geschichten, die das Leben schreibt“, die
scheinbar alltäglichen Gespräche im Teppich des Lebens bieten aber
sicher auch für den kleinen Mann einen Bezugspunkt, mithilfe dessen
er sich täglich neu hinterfragen und auf den er sein Handeln gründen
kann.
Als Fazit bleibt mir nur der Versuch,
Shakespeare mit der orientierungsgebenden Macht der Narrative
zusammenzuführen: Was bleibt an Erkenntnis, wenn ein jeder von uns
erfüllt vom Verlangen nach Orientierung zusammen mit anderen, die
ihn halten und inspirieren, zu unbekannten Zielen unterwegs ist? „Die
ganze Welt ist Bühne und alle Frauen und Männer bloße Spieler. Sie
treten auf und gehen wieder ab. Sein Leben lang spielt einer manche
Rollen!“
Und wer nicht ins Theater geht der schaut halt Fernsehen auf unterstem Niveau Barbara Salesh, Augmented Reality und co ;-)
AntwortenLöschenHm, interessant, was für verschiedene Grundvoraussetzungen für Orientierung würd das implizieren:
AntwortenLöschen- Nicht flegmatisch-resignativ (d.h. aktionsbereit)
- Nicht unmotiviert-apathisch (d.h. neugierig)
- Nicht bildungsfern-lernfaul (d.h. lernbereit)
Sehr gut! Dann wäre es nicht Geisteswissenschaft, sondern Bildung, die Orientierung böte! Das gefällt mir.
...Dann wäre es nicht Geisteswissenschaft, sondern Bildung, die Orientierung böte!
LöschenDas gefällt mir auch wesentlich besser als einige radikale Thesen im Text darüber.
Das wegfallen der Religiosität ist zwar der
AntwortenLöschenerste alarmierende Schritt, jedoch ist meiner
Ansicht nach das, was da unweigerlich darauf
folgt, viel katastrophaler für unseren Kontinent:
Der Untergang der Institutionen der christlichen
Kirchen.
Heutzutage glaubt sich doch eh' schon jeder sein
eigenes Süppchen zurecht.
Die Moralischen und seelsorgerischen Instanzen der
Kirchen, die seit Jahrtausenden das Zusammenleben
in unserer Kultur gestützt haben, bergen (noch) das
wichtigste Potential an gemeinsamen Werten und
Normen, die unsere Gesellschaft im innersten
zusammenhalten.
Wenn diese Jedis, deren Wort einem
Lichtschwert gleicht, entgültig verschwunden sind,
wird es finster im Imperium, befürchte ich.
Es gibt eine Menge von Berufen, die sich
das Religiöse Erbe teilen werden:
Lehrer, Anwälte, Juristen,
Ärzte, Psychologen, Naturheiler, Techniker
Banker und nicht zu vergessen, die Fanatiker und
Fundamentalisten anderer Religionen und Sekten
Da sind die Geisteswissenschaftler nur ein Teil
davon. Ich würde da auf eine starke Erweiterung
des eigenen Suppentellerhorizonts plädieren.
Fest steht für mich:
So ganzheitlich wie die Geistlichen unserer Tage
wird die Seelsorge aber niemand mehr tun.
Hoffnung ist das letzte was sirbt.
Das vorletzte sollte die Kirchensteuer sein.
Andererseits gab es diese Moralische Endzeit-
stimmung schon immer:
"Die Jugend liebt heutzutage den Luxus.
Sie hat schlechte Manieren, verachtet die Autorität,
hat keinen Respekt vor den älteren Leuten und schwatzt,
wo sie arbeiten sollte.
Die jungen Leute stehen nicht mehr auf,
wenn Ältere das Zimmer betreten. Sie widersprechen ihren Eltern,
schwadronieren in der Gesellschaft, verschlingen bei Tisch
die Süßspeisen, legen die Beine übereinander
und tyrannisieren ihre Lehrer."
meinte schon Sokrates 449 - 399 v. Chr.
Auch ein Babylonischer Kulturkritiker, ca. 1000 v. Chr.
stellte bekanntlich schon fest:
"Diese heutige Jugend ist von Grund auf verdorben,
sie ist böse, gottlos und faul.
Sie wird nie mehr so werden wie die Jugend vorher,
und es wird ihr niemals gelingen, unsere Kultur zu erhalten."
Auch die Reste einer humanistischen Bildung eignen sich
immer noch dazu, eine Menge Optimismus zu verbreiten.
Auch das wollte ich hier noch hinzufügen.
Schöne Beispiele antiker Kulturen ;)
AntwortenLöschenSchön, wenn meine Gedanken weitere anregen!