Nachdem ich mich ja zuletzt schon als Kritiker für Bilder und Musik versucht habe (was ziemlich Spaß gemacht hat, mir aber auch zurecht Schelte von Kennern eingebracht hat) will ich mich heute ans Kino wagen, nachdem wir zuletzt zwei Filme gesehen haben, die mich schwer beeindruckt haben.
1) Die Puppe, ein deutscher Stummfilm von Ernst Lubitsch aus dem Jahr 1919. Ein Film, als das Kino gerade erst Laufen lernte, in der besuchten Aufführung untermalt vom Percussion-Ensemble unserer alten Schule, des KHG.
Der Neffe eines reichen Adeligen soll heiraten und flieht vor dem Ansturm der Bewerberinnen ins Kloster. Dort wird das bigotte Klosterleben in seiner Genusssucht karrikiert, bevor seine Mitbrüder im Wissen um die reichhaltige Mitgift ihn überreden, zum Schein eine Puppe zu ehelichen. Ein Puppenmacher, der geeignete Exemplare fertigt, die neben einem Lauf- und Gruß- auch über ein Tanzprogramm verfügen, ist rasch gefunden. Dessen Antagonist ist wiederum sein Lehrling, der flegelhaft und scharfzüngig die Familie seines Herrn in den Wahnsinn treibt. In Abwesenheit seines Lehrmeisters ruiniert er die Puppe, die dieser nach dem Abbild seiner Tochter gefertigt hat, nachhaltig. Dumm, dass genau diese Puppe der reiche Neffe zuvor ausgewählt hat. So entschließt sich die Tochter, anstelle der Puppe zu treten, bis der Lehrling das tatsächliche Exemplar repariert hat.
Das großartige an dem Film ist aus meiner Sicht, dass es zu dieser Zeit noch keine festen Genres gab, keine klare Trennung zwischen Zielgruppen und keine erprobten Kameraeinstellungen gibt. Alles bewegt sich zwischen Shakespears Wanderbühne, Theater und Tanz-Choreographie. Genial ist, wie die Kulissen von Anfang an als Konstruktion transparent gemacht werden - bis hin zu den Pferden, die definitiv von menschlichen Statisten gespielt werden und dies zum Ende hin dadurch kund tun, dass sie sprechen können. Großartig ist auch, wie sich der Fokus der Handlung mehrmals verschiebt - es gibt kein klares und langweiliges Setting, in dem nur Orte und Personen vorgestellt werden, die auch für die Handlung relevant sind. Einzig das Schloss des Onkels und das Kloster treten mehrfach auf. Nach einem bunten Tanzreigen offenbart sich erst zur Mitte des Films der - ebenso wie die Tochter wirklich brillant gespielte - Lehrling als wahrer Puk, der von da ab beinahe einen eigenen Handlungsstrang neben dem heiratsunwilligen Neffen erhält. In seiner Ursprünglichkeit beeindruckt, dass das Stück davon abgesehen völlig zeitlos ist.
2) Nachtzug nach Lissabon, ein aktueller Film nach einem Roman von Pascal Mercier.
Ein Lateinlehrer, der als Prototyp eines verkrachten und vereinsamten Intellektuellen eingeführt wird, zugleich ein wahrer Philanthrop, rettet früh morgens eine junge Frau, die von einer Brücke in den Tod springen will. Unschlüssig nimmt er sie zunächst mit in die Schule, wo sie aber bald aufspringt und aus dem Zimmer läuft. Zurück bleibt ihr Mantel, in dem sich neben einem Ticket nach Lissabon mit dem Nachtzug ein Bändchen mit Lebensweisheiten eines gewissen Amadeu de Prado findet. Inspiriert vom Büchlein und kurzenstschlossen macht sich der Lehrer auf den Weg, lässt sein bisheriges Leben hinter sich und fährt mit dem Ticket nach Lissabon. Dort erfährt er zwar, dass Amadeu de Prado zwar zwischenzeitlich verstorben ist, macht sich aber dessen ungeachtet sofort daran, dessen Leben und Wirken zur Zeit der portugiesischen Diktatur in den 1970er Jahren zu ergründen und Zeitzeugen zu befragen.
Gleich zu Beginn des Films sind es die Lebensweisheiten und klaren, schönen Worte, die begeistern. Natürlich ist die Reise nach Lissabon auch in diesem Fall nur Metapher für den Weg zu sich selbst und das Ringen um die richtige Entscheidung. Ich zitiere mal aus dem Kopf (die DVD kommt leider erst im September): "Was ist mit all den Leben, die wir fühlen, aber nicht leben können?", "Es kommen jedes Jahr neue Schüler, deswegen versuche ich, sie nicht zu sehr zu lieben!" und "Das Wesentliche im Leben sind Sehnsucht, Genuss und Sicherheit." Zugleich habe ich mich an Horns Ende erinnert gefühlt - die eigentliche Hauptperson ist tot, ihr Wirken und ihre Bedeutung jedoch noch nicht hinreichend gewürdigt und so beginnt eine detektivische Suche nach dem, was damals geschah, als Amadeu de Prado unter der humanistisch inspirierten Prämisse "Kein Mensch soll leiden!" eines Albert Schweitzer als Arzt im faschistischen Portugal wirkt und darüber zum Widerstand kommt.
Auf beinahe unheimlich merkwürdige Weise hat mich dieser Film in seinem Bann gezogen, indem er für mich philosophische Forschung mit Entscheidungstheorie unter beschränkter Zeit (Heideggers Sein zum Ende?) verknüpft, wie sie mein Chef erforscht. Wie sollen wir handeln? Wie sehr mich dieser Film als Mensch und Forscher betrifft, habe ich eben erst begriffen, als ich zum Autor des zugrunde liegenden Romans recherchiert habe. Peter Bierri, der unter dem Pseudonym Pascal Mercier literarisch publiziert, ist Schüler von Ernst Tugendhat, zu dem ich im Studium von meinen akademischen Lehrern einiges vermittelt bekommen habe, und hat dort zur Zeiterfahrung promoviert. Ein verblüffender Verweis auf meine eigene informatische Forschung zur touristischen Entscheidungsfindung unter beschränkten Zeitressourcen, findet sich insofern, als sich Bieri mit seiner Analytischen Philosophie des Geistes intensiv mit den Kognitionswissenschaften auseinandergesetzt hat und dennoch als Tugendhat-Schüler natürlich dessen Freiheitsbegriff weiterentwickelt hat. Deteminismus und Freiheit sind bei ihm kein Widerspruch. Ich staune noch immer und muss glaube ich in den nächsten Wochen einiges lesen, das ich in meinen eigenen Notizen nur als unvollendet finde...
Zurück zum Thema: zwei ganz klare Empfehlungen, sich diese Filme nicht entgehen zu lassen, wann immer Gelegenheit dazu besteht!
»Nachtzug nach Lissabon«:
AntwortenLöschenKlaus und ich haben vor ein paar Jahren das Buch gelesen, fanden es aber eher mittelmäßig.